Financial Times Deutschland , 9.10.02: China: Die Stunde der Pragmatiker

Dem scheidenden chinesischen Staatschef Jiang Zemin folgt eine Riege unideologischer Reformer nach. Sie müssen die zunehmende Arbeitslosigkeit, das marode Finanzsystem und die Korruption in den Griff bekommen.

Geht Jiang Zemin? Oder bleibt er Parteichef? Gao Shiji mag die Frage nicht mehr hören. „Darum geht es doch gar nicht“ , sagt er mit leiser Ungeduld in der Stimme. „Ich habe diese Ratespielchen satt.“ Gao ist Abteilungsleiter im Restrukturierungsbüro des chinesischen Staatsrats. Der 43-jährige Wirtschaftsbürokrat brütet Tag für Tag über Zahlen und Modellen, mit denen sein Land zu einer Marktwirtschaft umgebaut werden soll.

Er arbeitet daran, dass China mit seinen 1,3 Milliarden Menschen eines Tages wirklich der größte Markt der Welt wird. Dazu schaut er über die Grenzen, wie Europa oder Amerika Finanzmärkte reformieren und Staatsunternehmen privatisieren und welche Pensionssysteme den Lebensstandard im Alter sichern. Langsam und vorsichtig geht Gao dabei vor, auf die chinesische Art, unspektakulär.

Aber die Welt will ein Spektakel, und darum schaut sie auf die chinesische Politik. Die bietet derzeit ausreichend Stoff für ein Drama, denn ein Führungswechsel steht an. Vom 8. November an tagt der 16. Kongress der Kommunistischen Partei Chinas. Dann soll die „Vierte Führungsgeneration“ nach der Revolution von 1949 die Spitzenämter übernehmen.

Junge Reformer mit Ministerstatus

Dabei gilt Hu Jintao, der stellvertretende Staatspräsident, als wahrscheinlichster Nachfolger Jiang Zemins im Amt des Staatspräsidenten und Parteichefs. Für sicher halten Beobachter in Peking inzwischen auch, dass Vizepremier Wen Jiabao Premier wird und sein Kollege Wu Bangguo ebenfalls einen führenden Posten bekommt. Die künftige Ministerriege dürfte sich aus relativ jungen Reformern aus den Regionen zusammensetzen – wie etwa Bo Xilai, dem Provinzgouverneur von Liaoning.

Welcher der Kandidaten sich am Ende durchsetzt, spielt jedoch für Chinas Zukunft keine große Rolle. „Auf wessen Schreibtisch meine Arbeit landet, ist längst nicht mehr von Belang“, sagt Gao Shiji.

Ein Blick durch die Reihen der Kandidaten zeigt, warum: Sie sind allesamt ebenso gut ausgebildet wie pragmatisch. Und alle haben sich ihre Sporen beim Reformieren der Wirtschaft auf Provinzebene oder bei der Einstimmung des Parteiapparats auf den Kapitalismus verdient. Ein Gegenlager orthodoxer Kommunisten, die den Reformprozess anhalten könnten, gibt es nicht mehr. „Zur traditionellen Linken zählen höchstens noch fünf bis zehn Prozent der Parteimitglieder“, schätzt ein Diplomat in Peking.

Schließlich passt die alte Ideologie längst nicht mehr zur Realität. „Die Fahne des Kommunismus hochhalten, unbeirrt den kapitalistischen Weg gehen“, lautet eine ironische Beschreibung der herrschenden Praxis.

<b<Funktionäre schützen Pfründe

Die regierenden Funktionäre sorgen sich dabei nicht zuletzt um ihr privates Wohlergehen. „Nehmen Sie Li Peng, den Vorsitzenden des Nationalen Volkskongresses: Seine gesamte Familie ist ein Haufen von Großunternehmern“, sagt ein EU-Diplomat. „Die schützen ihre persönlichen Pfründe. Solange das läuft, halten sie sich aus der Politik raus.“

Staats- und Parteichef Jiang Zemin wird dafür sorgen, dass sein Nachfolger die Reformen fortsetzt. Sein Vorgänger Deng Xiaoping hat vorgemacht, wie es geht: Er behielt noch Jahre nach dem Rückzug von Partei- und Staatsspitze den Vorsitz der Zentralen Militärkommission und zog im Hintergrund die Fäden.

Seit mehr als einem Jahr stimmt Jiang Zemin die Partei und das Land auf seine neue ideologische Parole ein: die „drei Vertretungen“. Die KP müsse die „fortschrittlichen Produktivkräfte, die fortschrittliche Kultur und die Interessen der breiten Massen“ vertreten. Übersetzt heißt das: Die Partei darf sich nicht mehr nur an Arbeitern, Bauern und Soldaten,
sondern muss sich an allen Teilen der Bevölkerung orientieren. An erster Stelle stehen jene, die Reichtum schaffen, die „fortschrittlichen Produktivkräfte“ – die Unternehmer.

Sorge vor Korruption

Die Partei soll Jiangs Formel in ihr Statut aufnehmen. Doch Parteilinke, aber auch regimekritische Reformer warnen, Jiang Zemins Aufwertung der Privatunternehmer wirke wie eine Provokation auf die Verlierer der Wirtschaftsreformen. Die von Jiang zusätzlich vorgeschlagene Aufnahme von Unternehmern in das Zentralkomitee birgt zudem das Risiko, dass die Partei noch mehr zum korrupten Selbstbedienungsladen verkommt. „Es besteht die Gefahr, dass sich hier Unternehmer- und Parteibonzeninteressen aufs Beste vermählen“, sagt
ein europäischer Botschafter in Peking.

Aber am Ende dürfte sich der scheidende Staatschef mit seinem Reformvorstoß durchsetzen. „Irgendwann kommt die Stunde der Wahrheit“ , sagt ein deutscher Diplomat in Peking. „Man kann nicht endlos Kommunismus predigen, wenn man Kapitalismus betreibt.“

Mittlerweile erwirtschaften Privatunternehmen rund 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – vor zehn Jahren lag ihr Beitrag nach Weltbank-Schätzungen bei gerade mal 20 Prozent. 54 Millionen Menschen beschäftigt die junge Privatwirtschaft – die Kommunistische Partei hat nur 40 Millionen Mitglieder.

Realität in kleinen Dosen

Geschickt und in kleinen Dosen hat Jiang Zemin seinen Genossen die Realitäten der „sozialistischen Marktwirtschaft“ nahe gebracht. Beim Nationalen Volkskongress im Frühjahr 2001 fing er an, dafür zu werben, Privatunternehmern als Parteimitglieder aufzunehmen. Im Frühjahr dieses Jahres ließ er dann zum ersten Mal Privatunternehmer zu „Helden der Arbeit“ küren.

Selbst wenn seine Nachfolger das Rad wieder zurückdrehen wollten – es wird ihnen kaum gelingen, weil Chinas ungelöste Strukturprobleme sie vorwärts treiben. „Die gesamte nächste Führungsgeneration reitet gemeinsam auf einem Tiger, da ist das Absteigen schwierig“, erklärt ein Diplomat. „Sie können ihn nur an den Ohren packen und hoffen, dass er sich nicht umdreht und beißt.“

Verlierer in den Großstädten

Der Tiger, das ist ein Monstrum mit vielen Gesichtern. Es sind die zerlumpten, tief gebräunten und rauchgeschwärzten Gestalten, die zu Hunderten vor den Bahnhöfen der Millionenstädte warten – auf Arbeit, auf eine Wohnung, auf ihren Anteil am irtschaftswunder. Sie kommen vom Land, wo es nicht mehr genug zu verdienen gibt, aber genug Farbfernseher, um den Traum vom schnellen Geld zu wecken. Und die Wut, wenn es nichts wird. Rund 120 Millionen Landbewohner sind als Wanderarbeiter unterwegs, weitere 200 Millionen arbeitslos
oder unterbeschäftigt, schätzt die OECD.

Der Tiger, das sind auch die Arbeiter in den Staatsbetrieben, denen eine „eiserne Reisschüssel“ versprochen wurde, also Versorgung von der Wiege bis zur Bahre, und die sich jetzt nicht einmal mehr einer kleinen Rente sicher sein können. Zehntausende von ihnen gingen im Frühjahr im nordostchinesischen Liaoyang auf die Straße. Die Regierung gibt die Arbeitslosenquote in den Städten mit rund drei Prozent an; unabhängige Schätzungen sprechen von mindestens zehn Prozent.

Es sind aber auch die Staatsbank-Manager, die ungeheure Summen fauler Kredite auflaufen und damit das Finanzsystem verrotten ließen – nach Angaben von Notenbankchef Dai Xianglong rund 28 Prozent der gesamten Darlehenssumme, nach Schätzungen der Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young rund das Doppelte.

Ausländer schaffen Arbeit

Die Lösung der Probleme sollen private und ausländische Unternehmen bringen: Sie wachsen schnell, schaffen Arbeitsplätze und Wohlstand. Um 52 Prozent schoss der Umsatz der 500 größten Privatfirmen laut einer Studie der All China Federation of Industry and Commerce 2001 in die Höhe. Ihre Gewinne stiegen um 36 Prozent. Sie beschäftigten 46 Prozent mehr
Arbeitskräfte und zahlten 44 Prozent mehr Steuern als im Jahr zuvor.

Chinas Führung glaubt an diese Zahlen. „Schwerpunkt unserer Politik ist, kleine und mittlere Unternehmen zu fördern“, sagt Gao Shiji. „Die größte Herausforderung ist es, das Sozialsystem auf die Beine zu bekommen. Das geht nur, wenn wir die Unternehmen machen lassen.“

Aber die politische Spitze weiß ebenso, dass auch mit diesem Rezept nicht alle zugleich reich werden können. Die Einkommensschere habe sich so weit geöffnet, dass die international anerkannte Gefahrenmarke für soziale Unruhen überschritten sei, warnen drei prominente chinesische Ökonomen in einer aktuellen Studie. Peking ist nach solchen Mahnungen immer auf die Bremse getreten. „Auch Jiang Zemins Nachfolger werden weiter mit chinesischem Tempo reformieren“, sagt Ian Kay, Geschäftsführer der Europäischen Handelskammer in China. Das gelte besonders bei der Öffnung für Auslandsinvestoren: „Welches Land würde sich hinlegen und sagen: Kommt und übernehmt unsere Industrien?“

Die ausländische Geschäftswelt in China sieht den Führungswechsel gelassen. Schließlich hat sie es im täglichen Geschäft zunehmend mit Profis zu tun, die auf der gleichen Wellenlänge denken. In Schanghai etwa, Magnet für ausländische Investitionen, übernahm dieses Jahr eine Riege von Mittvierzigern das Ruder, die allesamt im Westen ausgebildete Ökonomen sind.

Ähnliches gilt für das Staatsratsbüro, in dem Gao Shiji arbeitet, oder für das Außenwirtschaftsministerium. Kaum ein Abteilungsleiter hier ist älter als 50, und im Rahmen des WTO-Beitritts wurden ganze Abteilungen mit jungen Experten neu geschaffen. „Da haben wir immer mehr das Gefühl, dass sie zuhören und unsere Probleme verstehen“, sagt Kay. Wirklich interessant wird es in fünf bis zehn Jahren – wenn diese Leute Minister werden.

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Undurchsichtige Machtstrukturen und wirtschaftliches Potenzial

Staat und Partei Die Verfassung weist jede politische Zuständigkeit einem Staatsorgan zu. Die Macht aber liegt bei der Kommunistischen Partei.

Institutionen und Personen Führungspersönlichkeiten und Beziehungen haben das Primat über Organe und Gesetze. So fallen die wichtigsten Beschlüsse im Gerangel hinter den Kulissen.

Zentrale Militärkommission Das achtköpfige Organ hat den Oberbefehl über die Armee, der Staats- und Parteichef immer den Vorsitz. Um Reformen durchzusetzen, muss er sich die Kontrolle über das Militär sichern.

Politbüro Seine 22 Mitglieder, davon sieben im Ständigen Ausschuss, bilden das Zentrum der Macht in Peking.

Zentralkomitee Der Vorhof zum Politbüro. Dem ZK gehören 193 Mitglieder und 151 stellvertretende Mitglieder an.

<b<Staatsrat Das Kabinett unter dem Vorsitz des Premiers.

<b<Nationaler Volkskongress Muss Gesetze absegnen, ist aber nur auf dem Papier die Vertretung des Volkes.

Wirtschaftskraft Das chinesische Pro-Kopf-Einkommen ist fast doppelt so hoch wie das indische. Von südostasiatischen Tigerstaaten wie Südkorea oder Malaysia ist China noch weit entfernt. Doch vor allem dynamisch wachsende Küstenregionen wie Schanghai holen auf.

Wu Bangguo, Vizepremier Hat im Rennen um den Premiersposten wohl den Kürzeren gezogen. Doch bleibt der 61-jährige Radioelektronik-Ingenieur Mitglied der reformorientierten Kernmannschaft der Regierung.

Hu Jintao, Vizestaatspräsident Er soll Staats- und Parteichef Jiang Zemin beerben. Wann dieser den Parteivorsitz abgibt, ist noch offen. Der 60-Jährige hat keine außenpolitische Erfahrung, könnte aber vorsichtig politisch reformieren.

Bo Xilai, Gouverneur von Liaoning Der schlagfertige Provinzchef mit guten Beziehungen zur Wirtschaft hat sich beim Umsetzen der Reformpolitik seine Sporen verdient. Der 53-Jährige hofft auf ein Ministeramt.

Wen Jiabao, Vizepremier Favorit für den Premiersposten. Der 60-Jährige gehört zur Finanz-arbeitsgruppe des Zentralkomitees und leitet die Kommission zur Armutsbekämpfung. So hat er sich bei den zentralen Reformthemen bewährt.

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