Die Welt: Europas Außenpolitik ist verlogen – nicht die der Amerikaner

14.08.02

Washington – Einen Augenblick lang schien der 11. September ein Wendepunkt in den transatlantischen Beziehungen zu sein. Dem westlichen Goliath war eine schwere Wunde zugefügt worden. In dem darauf folgenden Stimmungsmix aus Schock, Mitgefühl und Angst wurden die Bruderzwiste eingestellt, Europa und Amerika rückten enger zusammen. Bundeskanzler Schröder gelobte „uneingeschränkte Solidarität“ mit den Vereinigten Staaten, Queen Elizabeth ordnete an, „The Star Spangled Banner“ im Buckinghampalast zu spielen und die Titelseite von „Le Monde“ verkündete: „Wir sind alle Amerikaner“.

Kaum waren die letzten Terroristen aus den Höhlen von Tora Bora vertrieben, schlug der Ton um. Ein Pressefoto, das mehrere Al-Qaida-Gefangene gefesselt und mit verbundenen Augen in Guantanamo Bay zeigte, schürte Zweifel, ob Europa und die USA für die gleichen Werte eintreten. „Gefoltert“, schrie eine Schlagzeile in der Zeitung „London Mail“. Während dies noch nachhallte, sprach Präsident Bushs in seiner Rede zur Lage der Nation von der „Achse des Bösen“, was in Europa neue Ausbrüche der Erbitterung zur Folge hatte. Als einer von vielen nannte der EU-Kommissar für Außenbeziehungen, Chris Patten, Bushs Ansatz „absolutistisch und simplistisch“. Und der deutsche Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye warnte vor den Gefahren amerikanischer „Abenteuer“. Diese beiden Begebenheiten erinnerten die Europäer offenbar an all das, was ihnen vor dem 11. September an Amerika zuwider war: die Anwendung der Todesstrafe, ein Mangel an Respekt vor dem internationalen Recht und eine zu große Bereitwilligkeit, auf Gewalt oder andere Zwangsmaßnahmen zurückzugreifen. „Der Spiegel“ beschreibt es drastischer: „Während die Europäer fest auf internationale Kooperation (…) bauen, setzt die Supermacht immer unverhohlener auf die normative Kraft ihrer überlegenen Macht.“ Aber von jenseits des Atlantiks betrachtet, scheint der Riss weniger auf Amerikas Machtgier oder seine Gleichgültigkeit gegenüber den Menschenrechten zurückzuführen sein, als auf europäischen Neid und Unmut über die „Stunde Amerikas“. Tatsächlich wirken die Klagen über die Missachtung humanitärer Standards meist an den Haaren herbeigezogen – ausgedacht, um den Umstand zu kaschieren,
dass Amerika nicht nur stärker und reicher ist, sondern auch idealistischer als die meisten anderen Staaten.

Man denke zum Beispiel an das Tamtam um die Guantanamo-Gefangenen. Es stellte sich heraus, dass die Häftlinge auf dem Foto gerade verlegt wurden. Zu anderen Zeiten waren sie weder gefesselt, noch waren ihnen die Augen verbunden. Delegationen des Roten Kreuzes und der Regierungen Frankreichs und Großbritanniens besuchten Guantanamo Bay. Sie erfuhren, dass die Gefangenen „keineswegs über Misshandlungen klagten“. Demnach wusste auch das Europäische Parlament, dass die Berichte über Misshandlungen falsch waren. Dessen ungeachtet verabschiedete es eine Resolution, welche die USA dazu aufforderte, „allen Häftlingen eine menschenwürdige Behandlung zu garantieren (…) und das internationale humanitäre Recht und die Normen und Grundsätze der Menschenrechte zu respektieren.“ Wenn es einen Skandal gab, dann den, dass die Europäer ihren Verbündeten verleumdeten.

Oder denken wir an die „Achse des Bösen“. Der amerikanische Wunsch, Saddam Hussein zu vertreiben, hat nichts mit „Abenteurertum“ zu tun. Er ist ein Akt der Selbstverteidigung. Saddam hat bereits zweimal Massenvernichtungswaffen eingesetzt – gegen den Iran und die kurdische Bevölkerung im eigenen Land. Außerdem hat er offen seine Absicht erklärt, sie wieder einzusetzen, und zwar gegen Israel. Er ist bemüht, noch mehr dieser Waffen in seinen Besitz zu bringen. Er hat kuwaitische Ölquellen in Brand gesteckt und im Jahr 1993 einen Attentatsversuch auf den früheren US-Präsidenten Bush befohlen. Wer zweifelt daran, dass er diese entsetzlichen Waffen einsetzen wird, falls sich die Gelegenheit dazu bietet?

Unser Wunsch, Saddam loszuwerden, entspringt keinem engstirnigen Egoismus. Es ist kein Vorwand, um alte Rechnungen zu begleichen, wie der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Vollmer, behauptete. Die Gefahr, die Saddam für den Frieden in der Region und der Welt darstellt, ist noch größer, als die, die er für Amerika darstellt. Vier Nachbarstaaten hat er bereits angegriffen – den Iran, Kuwait, Saudi-Arabien und Israel – weitere werden von ihm bedroht: die Golf-Scheichtümer und Jordanien. Er ist nicht deshalb ein ausgemachter Feind Amerikas, weil Amerika besondere Interessen in der Region verfolgt, sondern weil Amerika die Bürde auf sich nimmt, den Weltfrieden zu sichern.

Außenminister Fischer schlägt statt eines gewaltsamen Vorgehens vor, durch diplomatischen Druck die Rückkehr der UN-Waffeninspektoren in den Irak zu erwirken. Allerdings ist das System der Inspektionen schon vor langem untergraben worden – zum großen Teil durch das Verhalten Frankreichs, das sich im Weltsicherheitsrat auf die Seite des Irak schlug. Angesichts all der Kritik an Amerikas ungezügeltem Kapitalismus ist es die reinste Ironie, aber die Motive Frankreichs hatten vorwiegend mit ökonomischen Interessen und Geldgier zu tun. Fischer argumentiert außerdem, es gebe „keinen Beweis, dass der Terror Osama Bin Ladens irgend etwas mit dem Regime Saddam Husseins zu tun hat.“ Aber wie verhält es sich in diesem Fall mit dem Iran, dem zweiten Mitglied von Bushs „Achse des Bösen“? Das Land steckt bis über beide Ohren im Terrorismus. Spätestens seitdem iranische Agenten Morde unter anderem in Großbritannien, Deutschland, Frankreich, der Türkei, Italien, Norwegen und der Schweiz begingen, weiß Europa das. Sein Rezept für den Iran lautet dennoch, die Islamische Republik durch gutes Zureden, freundschaftliche Gesten und vertiefte Handelsbeziehungen vom Fanatismus abzubringen. Gleichzeitig kündigt die EU einen Vorstoß zur Ausweitungen ihrer Handelsbeziehungen mit Teheran an. Der Handel mit dem Iran „bietet angesichts dessen großen Reichtums an Bodenschätzen – etwa Erdöl, Erdgas und Mineralien – sowie seiner landwirtschaftlichen Produktivität und seines industriellen Potenzials enorme Chancen“, erklärte die EU-Kommission. Wieder fragt man sich: Ist es Amerika oder Europa, das einem seelenlosen Kapitalismus anhängt und Gleichgültigkeit gegenüber den Menschenrechten an den Tag legt?

Keine Episode rückte die transatlantischen Differenzen über die Menschenrechte stärker in den Blickpunkt als die diesjährige Zusammenkunft der UN-Menschenrechtskommission. Es war die erste, der Amerika nicht als Mitglied angehörte. Als die Delegierten für das 2002er Treffen gewählt wurden, bekamen Frankreich, Österreich und Schweden jeweils mehr Stimmen als die USA und errangen die drei Sitze, die für die „westliche Staatengruppe“ vorgesehen sind. Die Entscheidung dieser drei Länder, gegen Amerika anzutreten, wurde weithin als Tadel für Washingtons „Unilateralismus“ gewertet. Als sich die Kommission dieses Frühjahr in Genf traf, verabschiedete sie breit angelegte Resolutionen. Sie liefen darauf hinaus, jedes vorstellbare Recht für jedermann zu fordern: das Recht auf Entwicklung, Frieden, eine saubere Umwelt und einen hohen Lebensstandard. Derlei hohle Beschlüsse werden jedes Jahr gefasst, und niemand schenkt ihnen großes Augenmerk. Im stärker beachteten Teil ihrer Arbeit beschäftigt sich die Kommission mit bestimmten Ländern und Missständen. Dieses Jahr gab es 22 derartige Resolutionen. In keiner von ihnen wurden
Libyen, Syrien, Turkmenistan oder Saudi-Arabien erwähnt – sie alle gehören zu den zehn repressivsten Regimes der Erde.

Früher hatten normalerweise die USA Resolutionen eingebracht, die Pekings Repressionspolitik kritisierten, und bis 1977 hatten sie verschiedene europäische Staaten mitgetragen. In diesem Jahr plante Frankreichs Präsident Chirac jedoch eine Reise nach China, um für die Flugzeuge von Airbus Industries zu werben. Daraufhin lehnten es Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien – allesamt Partner im Airbus-Konsortium – zum erstenmal ab, eine China-Resolution zu unterstützen. Einen Monat später konnte Chirac in Peking stolz verkünden, einen 1,5-Milliarden-Dollar-Vertrag für Airbus Industries mit nach Hause zu bringen. Gleichzeitig erklärten Vertreter der chinesischen Regierung unverhohlen, dies sei eine Gegenleistung für Europas Verhalten in der Menschenrechtskommission. Dieses Jahr starben wieder Falun-Gong-Anhänger in chinesischen Gefängnissen.

Das Schweigen zu den Zuständen in China war um so verwunderlicher angesichts Europas lautstarker Verdammung der Todesstrafe in Amerika. Frankreichs Bildungsminister Jack Lang hatte Präsident Bush wegen der Hinrichtungen in Texas gar einen „Serienkiller“ genannt. Dabei ist die Gesamtzahl der jährlich in den Vereinigten Staaten vollstreckten Todesurteile mit 60 bis 80 kaum höher als die Zahl der Exekutionen, die in der chinesischen Presse wöchentlich vermeldet werden, wobei es dort nicht einmal faire Gerichtsverhandlungen gibt. Von den Ländern, die dagegen im Zuge der Versammlung kritisiert wurden, wurden 14 schonend gerügt, jedes in einer separaten Resolution. Kuba wurde zum Beispiel dazu „eingeladen“, in punkto Bürgerrechte und politische Rechte Fortschritte zu machen. Acht Resolutionen waren allerdings überhaupt nicht schonend formuliert – und sie zielten alle auf ein und denselben Staat: Israel wurde bis zum Erbrechen „verurteilt“ oder „streng verurteilt“. Wenn die Mitglieder der Vereinten Nationen, die damit betraut sind, die Einhaltung der Menschenrechte zu überwachen, so abstimmen können, wie sie es getan haben, wundert es dann, dass die USA mit einem Internationalen Strafgerichtshof nichts zu tun haben wollen?

Wenn ich Europäer wäre, würde ich mich über Amerikas überdimensionierte Macht ärgern, vor allem, weil jene Macht manchmal egoistisch und achtlos eingesetzt wird. Aber Europas Behauptung, es habe eine menschlichere Art und Weise gefunden, in der Welt zu agieren, ist nichts anderes als ein Versuch, den Schmerz über seinen verletzten Stolz zu lindern. Amerika ist nicht nur reicher und mächtiger, es ist auch prinzipientreuer in seiner Außenpolitik. Und vielleicht ist es das, was den Europäern am meisten zu schaffen macht. Aber es ist auch der Mangel, den Europa am leichtesten beheben kann. Wenn es will.

Der Autor ist Wissenschaftler am American Enterprise Institute. Kürzlich erschien von ihm: „Heaven on Earth: The Rise and Fall of Socialism“. A. d Amerik. v. Daniel Eckert

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