NZZ (CH): Chinas Kampf gegen den Falun-Gong-Drachen

Seit bald zwei Jahren versucht Peking der Meditationsbewegung Falun Gong Herr zu werden – ohne Erfolg. Nun hat die Regierung eine Massenkampagne lanciert mit dem Ziel, die «Sekte» endgültig zu besiegen und ihre Führungspersönlichkeiten zu vernichten. Das Scheitern dieser Aktion ist vorhersehbar; der bereits panisch anmutende Kampf gegen Falun Gong könnte die Gruppe stärken.

U. Sd. Peking, im Februar

Das Bild liess niemanden unberührt. Ein kleines Mädchen mit schwarzem, verbranntem Gesicht windet sich am Boden vor Schmerzen und ruft verzweifelt nach seiner Mutter. Vergeblich: Die Frau, die sich zusammen mit vier anderen Personen vor zwei Wochen auf dem Tiananmen- Platz in Peking mit Benzin übergossen und angezündet hatte, lag bereits im Sterben. Liu Siying,das 12-jährige Mädchen, erlitt schwere Verbrennungen und ist zusammen mit den übrigen Opfern ins Spital gebracht worden. Die spektakuläre, ohne Zweifel als Demonstration gedachte Selbstverbrennung, die auf den Videos diverser Touristen festgehalten ist, hat die Regierung inzwischen zu neuer, hektischer Propagandatätigkeit veranlasst. Das Regime gibt der Meditationsbewegung Falun Gong die Schuld und behauptet, die Teilnehmer seien allesamt Mitglieder der Gruppe gewesen. Tagelang wurden die aufwühlenden Bilder der Aktion am Fernsehen gezeigt, und die kleine Siying ist zur Hauptperson einer Medienkampagne geworden, die darauf abzielt, jegliche Sympathie für Falun Gong in der Öffentlichkeit zu ersticken.

Kampagnen in den Schulen

Falun-Gong-Sprecher in Hongkong und den Vereinigten Staaten haben die Darstellung der chinesischen Regierung als dubios zurückgewiesen. Die betreffenden Personen hätten nicht wie wahre Anhänger der Bewegung ausgesehen und sich auch nicht so verhalten, hiess es – die Lehren des Gründers von Falun Gong, Li Hongzhi, verböten Selbstmord ausdrücklich. Doch diese Dementis liessen die Kommunisten in Peking kalt. Als gute Marxisten sind sie es gewohnt, Verteidigungsreden kritisierter Gegner als implizites Schuldeingeständnis zu interpretieren, und in der makabren Aktion sahen sie offensichtlich die Chance, endlich jene Erfolge im Buhlen um die Gunst der Öffentlichkeit einzustreichen, die ihnen bisher entgangen waren.

Ein kolossaler Apparat ist seither in Bewegung gesetzt worden. Die Medien hetzen im bekannten Stil. Falun Gong, heisst es, müsse mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden, die Führer hätten «neue und alte Blutschuld» zu begleichen. In Fabriken und Betrieben wird das Personal bearbeitet, und in den Schulen gibt es seit den chinesischen Neujahrsfeiern obligatorische Anti-Falun-Gong-Lektionen. Von Schnellbleichen hält man nichts: Bildungsminister Chen Zhili sprach von der Notwendigkeit, sich auf einen «langen Kampf» einzustellen; den Schülern müsse die «unmenschliche, gesellschafts- und wissenschaftsfeindliche Natur» von Falun Gong beigebracht werden. Ein «610 Task Force Office», benannt nach dem ersten grossen Schlag gegen Falun Gong am 10. Juni letzten Jahres, soll weitere Demonstrationen verhindern.

Obwohl die Staatspropaganda deutlich an die Praktiken der Kulturrevolution erinnert, ist der Kampagne einiger Erfolg beschieden. Das Verhalten der Mutter Liu Siyings ist auf Abscheu gestossen, und viele Menschen glauben der KP, wenn sie sagt, hier habe sich Falun Gong selber entlarvt. Doch dass damit der «üble Kult» bereits besiegt ist, ist wenig wahrscheinlich. Im Gegenteil: Je entschlossener Peking den Drachen bekämpft, desto mehr Köpfe scheinen ihm zu wachsen. Längst beschränkt sich der Widerstand nicht mehr auf die Meditationsgruppe; auch Glaubensgemeinschaften im traditionelleren Sinne sehen sich mit verstärktem Druck des Staates konfrontiert und solidarisieren sich mit Falun Gong. Der hartnäckig wiederholte, aus dem Munde von Kommunisten ganz besonders absurde Vorwurf der «Unwissenschaftlichkeit» macht Gläubige jeglicher Denomination nervös: Religion ist per definitionem «unwissenschaftlich»; wenn staatlich verfolgt werden kann, was obrigkeitlich fixiertem Wissenschaftsverständnis widerspricht, dann sind alle Glaubensgemeinschaften, alle «Sekten» und alle «Bewegungen» in Gefahr.

Fehlendes Rechtsverständnis

Oft weisen chinesische Regierungsmitglieder darauf hin, dass man ja auch im Westen Probleme mit Sekten habe und sie manchmal verbiete. Übersehen wird dabei, dass Glaubensgemeinschaften in den meisten westlichen Staaten grundsätzlich erlaubt sind und die Justiz erst dann aktiv wird, wenn ein Straftatbestand vorliegt, wenn also Gesetze gebrochen werden. Diese Unterscheidung ist wesentlich, wird aber in China kaum verstanden. Wenn Sektenführer im Westen ihre Anhänger auffordern, ihnen ihr Geld zu schicken oder Atemübungen zu machen, statt sich operieren zu lassen, dann mag das degoutant sein – verboten ist es nicht. Wer auf Gewalt oder Nötigung verzichtet, wer appelliert und die Angesprochenen aus «freiem Willen» handeln lässt, hat nichts zu fürchten – Überzeugungskraft rekrutiert nun einmal Opferwillen, und von Staates wegen zu beweisen, dass mündige Bürger nicht mündig sind, sondern «verführt» wurden, ist ein heikles Unterfangen, dem zudem der Ruch von Inquisition anhaftet: Wo hört Glaube auf, wo beginnt Verführung? In China, einem Land, in dem fixierte Regeln kaum von Bedeutung sind, findet man nichts daran, Bürger zu verhaften und zu schikanieren, die keine Gesetze übertreten: Es genügt, wenn sie die «Autorität des Staates untergraben» oder die «allgemeine Sicherheit gefährden». Und wann das der Fall ist, entscheiden die Machthaber.

Sicher ist Falun Gong nicht über jeden Zweifel erhaben. Es liegen stossende, oft intolerante Äusserungen von angeblichen Mitgliedern vor, und die Lehren von Li Hongzhi, wie sie etwa auf der Website der Gruppe (falundafa.com) vorgestellt werden, sind alles andere als widerspruchsfrei. Aber praktizierende chinesische Falun-Gong-Anhänger beteuern im Gespräch immer wieder ihre Friedlichkeit; gefährlich, irrational oder gar hetzerisch wirken sie nicht. Jedem in Peking erhobenen Pauschalvorwurf folgt in der Regel umgehend das sehr viel glaubwürdigere Dementi aus Lis Hauptquartier in den USA, und an der unpolitischen Grundausrichtung der Bewegung kann kein Zweifel bestehen. Akte aggressiver Insubordination sind ebenso wenig bekannt wie Aufrufe zu zivilem Ungehorsam; Falun Gong ist weder eine staatszersetzende noch eine revolutionäre Gruppierung.

Die reale Bedrohung, die heute dennoch von Falun Gong ausgeht, ist nichts anderes als das Resultat der erbarmungslosen Hetze, die gegen sie eröffnet wurde. Die KP selber hat der Gruppe ihre Bedeutung gegeben, und die Behörden allein sind es, die Gesetze brechen, wenn sie friedlich dasitzende Menschen verprügeln – China kennt, auf dem Papier zumindest, die Rede- und die Versammlungsfreiheit ebenso wie die Religionsfreiheit. Dieser Missstand ist den Machthabern bewusst; vorläufig hat man sich damit beholfen, Falun Gong als «üblen Kult» zu bezeichnen und zu verbieten. Die Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe ist damit zwangsläufig ein Verbrechen.

Konspirationstheorien

Warum die Kommunisten derart panisch auf das Erscheinen von Falun Gong reagiert haben, ist nur teilweise erklärbar. Viel hat dazu sicher die unerwartete Grossdemonstration vor dem abgesperrten Wohnbezirk der KP-Oberen, Zhongnanhai, am 25. April 1999 beigetragen. Die Kundgebung, an der um offizielle Anerkennung geworben wurde, überraschte sämtliche Geheimdienste und löste ein beachtliches Köpferollen aus. Ebenso wichtig dürfte der Umstand sein, dass ausserordentlich viele Parteimitglieder Falun Gong praktizieren. Die KP fühlt sich unterwandert, und unter Politikern, die nicht anders als konspirativ denken können, löst eine derartige Einschätzung zwangsläufig grosses Unbehagen aus. Entscheidend aber dürfte sein, dass die Kommunisten haben feststellen müssen, dass eine nichtkommunistische Gruppe in der Lage ist, Millionen von einfachen Menschen für ihre Ideale zu begeistern – und das in einer Zeit, in der die Ideen von Marx und Engels kaum noch Einfluss auf das reale Geschehen in China haben. Für eine ideologisch abgewrackte Gemeinschaft wie die Herrscherclique in Peking ist jede derartige Gruppierung eine Gefahr. Gegnerschaften sind rasch geschaffen; ideologische Leere lässt sich ohne Probleme mit ein paar Parolen füllen.

Doch natürlich lässt man es nicht beim Ideologischen bewenden. Falun Gong wird nach wie vor mit aller Brutalität bekämpft. Menschenrechtsorganisationen sprechen von willkürlichen Verhaftungen und von Folter; Zehntausende sind bereits in Umerziehungslager geschickt worden, Dutzende verschwunden. Der Mechanismus der Gewalt, der hier spielt, hat seine Wurzeln im imperialen China, im System der sozialen Kontrolle, das bis heute angewandt wird und den meisten Chinesen als selbstverständlich gilt. Im Zentrum stehen dabei die lokalen Behörden. Sie haben unter allen Umständen die Erlasse Pekings zu erfüllen; versagen sie dabei, haben sie mit dem Schlimmsten zu rechnen. Gleichzeitig ist ihnen die Wahl der Mittel, mit denen sie die Vorstellungen der Zentrale durchsetzen, praktisch freigestellt – das Resultat allein interessiert. DiesesPrinzip hat vor allem in den Provinzen zu erschreckenden Vorfällen geführt. Bekannt geworden ist etwa, dass die Behörden in der Stadt Weifang, rund 400 Kilometer südöstlich von Peking, im Bemühen darum, die gnädigen Herren von Peking zufriedenzustellen, mindestens elf Falun- Gong-Anhänger zu Tode folterten. Etliche der Opfer hätten ihr Leben vielleicht retten können, wenn sie die Polizisten mit Geldgeschenken zufriedengestellt hätten. Ihre Armut – oder ihre Standhaftigkeit gegenüber illegaler Anmassung – wurde ihnen zum Verhängnis. Dass Weifang kein Einzelfall ist, versteht sich.

Parteiinterne Kritik an Jiang

Immer öfter scheint erkannt zu werden, dass die Überreaktion der Parteiführung den Aufstieg von Falun Gong massiv begünstigt hat. Kenner der innersten Führungszirkel in Peking sind der Ansicht, nicht wenige fortschrittliche Parteikader sähen in Präsident Jiang Zemin heute den eigentlichen Urheber der Krise. Jiang, bekanntermassen nicht eben mit den besten Nerven gesegnet, habe eine an sich unpolitische Bewegung durch kontraproduktive Repressionsmassnahmen erst eigentlich politisiert; mehr Zurückhaltung hätte bessere Resultate gebracht. So bestehe die Gefahr, dass die Gruppe zu einem Sammelbecken für all jene werde, die mit der Partei unzufrieden sind: für entlassene Arbeiter und Lehrer ebenso wie für Bauern, Intellektuelle und weltoffene Junge. Wie stark diese kritische Parteifaktion ist, weiss niemand genau; offensichtlich hat sie sich bis jetzt in der obersten Führungsschicht kein Gehör verschaffen können.

Die Partei kämpft den Kampf, den sie vielleicht gar nicht hätte aufnehmen müssen, finster entschlossen weiter, und sie hat auch bereits die nächste Bewährungsprobe vor Augen: den Besuch des IOK-Evaluationsteams. Wenn die Unbestechlichen des Olympischen Komitees vom 21. bis zum 24. Februar Peking, das die Spiele im Jahre 2008 durchführen möchte, genauer unter die Lupe nehmen, dann darf nichts schiefgehen. Die Luft muss rein sein, der Verkehr zahm und locker, und zu Demonstrationen darf es unter gar keinen Umständen kommen. Falun-Gong-Kundgebungen in diesem Zeitraum wären in der Tat verheerend für die Kommunisten. Sie könnten dazu beitragen, dass die olympischen Ambitionen Chinas einmal mehr unerfüllt blieben, und das wiederum hätte wohl weitreichende politische Konsequenzen. Peking würde einen weiteren IOK-Refus mit Sicherheit als Affront gegen China und als Beweis dafür betrachten, dass die Welt eben doch ohne Unterlass gegen das Reich der Mitte konspiriert.

Couragierte Niederländer

U. Sd. Der niederländische Aussenminister Van Aartsen hat wegen des Disputs um Falun Gong einen Besuch in Peking abgesagt. In der chinesischen Hauptstadt sprachen die zuständigen Behörden von «Terminschwierigkeiten», doch ein Sprecher Van Aartsens machte klar, dass die Visite nicht zustande kam, weil sich Peking ein Treffen des Ministers mit Mitgliedern der verbotenen Meditationsbewegung Falun Gong verbeten hatte. In Peking sagten westliche Diplomaten, das Exempel niederländischer Zivilcourage könnte, falls es Nachahmer finde, für die chinesische Führung äusserst unangenehme Konsequenzen haben. Kurzfristig gesehen ist es für die Kommunisten sicher von Vorteil, ein Treffen vermieden zu haben, welches das Image von Falun Gong markant aufgewertet hätte. Längerfristig aber verhilft die Weigerung westlicher Besucher, sich von Peking die Traktandenliste vorschreiben zu lassen, den Verfolgten zu einer Statusverbesserung und zwingt das totalitäre Regime, dessen Drang zu den Weltmärkten bekannt ist, zu etwas grösserer Zurückhaltung. Wie weit man mit einer geschickten Strategie kommen kann, beweist das Beispiel des Dalai Lama. Von Peking seit Jahren geächtet, wird er dennoch von praktisch allen wichtigen Politikern empfangen und stürzt die chinesischen Kommunisten von einer Verlegenheit in die andere. Eine Sprecherin von Falun Gong sagte in Hongkong, bei dem geplanten Treffen mit Van Aartsen hätte die Repression der chinesischen Behörden gegenüber religiösen Gruppen aufs Tapet gebracht werden sollen. Laut Falun Gong hat China bereits 50 000 Anhänger der Bewegung verhaftet; mindestens 100 Personen sollen in Polizeigewahrsam ums Leben gekommen sein. Der ehemalige Oberste Richter Indiens, P. N. Bhagwati, der heute als Vertreter der Uno-Menschenrechtskommission agiert, sagte, solange Falun Gong nicht mit dem Gesetz in Konflikt komme, könne keine Regierung der Welt etwas gegen die Gruppe unternehmen.

10. Februar 2001

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http://www.nzz.ch/2001/02/10/al/page-article75Z7M.html

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