Geschichten aus der medizinischen Praxis: Verletzung (Teil I)

Ein langer Tag war schließlich zu Ende. Als die Patienten gingen, schloss ich hinter ihnen die Tür und hatte das Verlangen nach Hause zu gehen. Gerade dann klingelte das Telefon. Ich zögerte ranzugehen und wartete einige Sekunden, schließlich ging ich doch ran. Es war ein Arzt der westlichen Medizin, der meine Hilfe brauchte. Er hatte eine Patientin, die an akuten Schmerzen im Unterleib litt und sich nicht mehr bewegen konnte. Er bat mich um einen Gefallen, weil er wusste, dass die Behandlung im Bereich des Unterleibes mein Spezialgebiet war. Ich stimmte zu und ging geradewegs in seine Praxis um zu sehen, was ich tun konnte.

Als ich ankam, stöhnte die Patientin vor Schmerzen und krallte sich an der Armlehne eines Stuhls fest. Sie konnte sich überhaupt nicht mehr bewegen und nur die kleinste Bewegung verursachte ihr die größten Schmerzen. Ich hatte schon ähnliche Zustände während meiner Ausübung der Chinesischen Medizin gesehen und wusste, was zu tun war. Ich holte einige Akupunkturnadeln heraus und punktierte ihren Ren Zhong Punkt (befindet sich zwischen Nase und Mund). Bevor sie sich darüber klar wurde, was eigentlich geschah, war die Nadel bereits 3 cm tief in die Haut eingedrungen. Ich bat sie darum tief einzuatmen, während ich die Nadel vorsichtig rein und raus bewegte. Eine Minute später war der Schmerz abgeschwächt und sie konnte wieder stehen. Ich bat sie darum einige Schritte mit der Nadel in der Haut zu gehen und sah, wie sich ihr schmerzverzerrtes Gesicht entspannte.

Nach dem ich die Nadel entfernte, führte ich eine Untersuchung durch. Als ich gerade dabei war, ihren Unterleib zu untersuchen, fing sie zu schreien an. Ihre Stimme war so scharf, als wenn jemand ihr mit einem Messer in den Bauchnabel gestochen hätte. Als sie meine Überraschung sah und wie meine Hände abrupt in der Luft stoppten, entschuldigte sie sich.

In den nächsten fünf Minuten hielt Jenny meine Hand und weinte. Aus meiner Erfahrung war mir klar, dass sowohl ihr Körper als auch ihre Seele ein ernsthaftes Trauma erlitten haben mussten, was zu diesen starken physischen Schmerzen führte.

Ich sagte sanft, "Lassen Sie mich versuchen ihren Schmerz zu behandeln, so dass sie wenn sie nach Hause gehen, anschließend gut schlafen können.“ Dann fuhr ich mit der Behandlung fort.

Anschließend als sich Jenny fertig machte und gehen wollte, fühlte sie sich viel besser. Sie konnte sitzen, stehen und gehen, wann immer sie es wollte. Sie hatte das Bedürfnis sich noch einmal bei mir zu entschuldigen und sagte, „…Ich habe sie angeschrieen, …. es war wirklich……kann ich Sie noch einmal aufsuchen?“. „Aber sicher,” sagte ich.
Jennys Unterleibschmerzen verschwanden, doch ich wusste, sie würde noch einmal wiederkommen, um sich weiter behandeln zu lassen. Ein paar Tage danach kam sie wieder und bat mich darum ihre Epilepsie zu behandeln.

In den nächsten Monaten erzählte sie mir einiges über ihr Leben.

"Ich wurde mit fünf weiteren Geschwistern auf einer Farm in der Mitte der USA geboren. Meine Mutter war in vielerlei Hinsicht inkompetent, aber eine gutherzige Frau und mein Stiefvater war ein Trinker. Sie heirateten als ich fünf Jahre war. Von da an wurde meine Kindheit zur Hölle. Ich wurde von meinem Stiefvater bis zu meinem 14. Lebensjahr ununterbrochen missbraucht. Ich konnte es nicht länger ertragen und lief von Zuhause fort. Seitdem war ich nicht mehr wieder zurückgegangen. Mittlerweile habe ich eine eigene Familie und zwei Kinder. Ich erlaube es meinem Stiefvater nicht, dass er nur in ihre Nähe kommt.

Ich hasse mich wirklich. Der Missbrauch in meiner Jugend hat mich verwirrt und verletzt. Wie konnte mich ein Erwachsener nur auf diese Weise behandeln? Wie konnte mir bloß so ein Unglück in diesem jungen Alter wiederfahren. Mein Selbsthass und mein aufsässiges Verhalten ließen mich zu einem ziemlich eingebildeten Menschen werden. Ich habe zwischen diesen Extremen gelebt und meine Einbildung ist nur an der Oberfläche, um mein inneres Gefühl extremer Unterlegenheit zu verstecken. Das Leben war so schrecklich zu mir. …

Ich kann nicht verstehen, wie die menschliche Moral in der heutigen Gesellschaft so herabgesunken sind. Man sieht überall, wie Kinder von Erwachsenen missbraucht werden, manchmal werden Kinder sogar zum Opfer ihrer eigenen Eltern. Sonntags gehen die Menschen zur Kirche und beten, aber sie beten für ihre eigenen Interessen. Die Menschen haben tief im Herzen schon kein Gewissen mehr, ganz zu Schweigen kennen sie aufrichtige Reue…."

Als sie mir das erzählte, wurde sie immer emotionaler. Ihr Atem wurde kurz und sie erlitt einen epileptischen Anfall. Ich behandelte sie, um die Krämpfe zu stoppen. Als die Krämpfe nach weniger als einer Minute vorbei waren, sagte sie, dass sei der kürzeste Anfall gewesen, den sie je erlitten habe.

(Wird fortgesetzt…)

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