Stuttgarter Zeitung (Deutschland): Viele Christen beten im Untergrund (08.09.03)

Offiziell herrscht in China Religionsfreiheit. Tatsächlich aber müssen sich christliche Gemeinden bei staatlichen Kirchenorganisationen registrieren lassen, die dann auch die Priester ernennen. Wer sich dieser Kontrolle entzieht, wird verfolgt.

Auf den Steinstufen vor der Südkirche, einem mächtigen Kolonialbau aus grauen Backsteinen, drängen sich die Gläubigen. Es ist Sonntag, kurz nach Sonnenaufgang. Rund zweihundert Kirchgänger, meist Frauen und alte Männer, stehen auf dem von Bäumen eingesäumten Platz vor der Kirche. Sie sind chinesische Katholiken. Wie überall auf der Welt kommen sie zum Beten in die Messe. Sie empfangen die Kommunion. Nur vom Papst spricht hier niemand. „Das hat die Regierung verboten“, erklärt ein älterer Mann.

Rund 200 Millionen Gläubige gibt es in China, darunter etwa zwölf Millionen Katholiken und mehrere dutzend Millionen Protestanten. Viele der Christen werden von den Staatsbehörden verfolgt. Anfang Juni stürmte die Polizei in Funing (Provinz Yunnan) nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen eine protestantische Gemeinde. Zwölf Gläubige wurden festgenommen. Acht sitzen seitdem unter dem Verdacht des „feudalen Aberglaubens“ für unbestimmte Zeit in Haft. Eine Woche später wurde bei Wenzhou (Provinz Zhejiang) der katholische Priester Lu Xiaozhou von der Sicherheitspolizei verhaftet. Der Priester gehört zur so genannten katholischen Untergrundkirche, deren Angehörige zum Teil seit Jahren in Gefängnissen sitzen.

Offiziell herrscht in China Religionsfreiheit. „Der Staat schützt normale religiöse Aktivitäten“, heißt es in Artikel 36 der Verfassung. In der Wirklichkeit werden die Gläubigen von den Behörden scharf überwacht. Christliche Gemeinden sind gezwungen, sich bei einer der drei staatlichen Kirchenorganisationen registrieren zu lassen, deren Priester vom Staat bestimmt werden. Besonders für Chinas Katholiken ist das schwierig. Die Patriotische Vereinigung der Chinesischen Katholiken ist seit der Gründung 1952 vom Vatikan abgespalten und erkennt den Papst nicht an. Millionen Katholiken ziehen es deshalb vor, in so genannten papsttreuen Untergrundkirchen zu beten. Die von Rom ernannten Priester und Bischöfe sind dort heimlich aktiv – und ständig in Gefahr, verhaftet zu werden.

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Viele chinesische Katholiken hoffen deshalb auf eine Aussöhnung zwischen Peking und dem Vatikan. Doch die Fronten haben sich über die Jahrzehnte immer mehr verhärtet. Ein Streitpunkt ist die Taiwanfrage. Peking verlangt von Rom den Abbruch der Beziehung zu Taipeh und die alleinige Anerkennung der VR China. Chinas Führung hat zudem Angst, dass die christlichen Kirchen ähnlich wie früher in Osteuropa oder der DDR zu Sammelpunkten für Dissidenten und Regimekritiker werden könnten. Eine allein dem Vatikan unterstellte Kirche wäre für Peking nur schwer zu kontrollieren. Doch die Grenzen zwischen den Staats- und den Untergrundkirchen verschwimmen.

Viele chinesische Priester haben sich mit der Staatskirche arrangiert, auch wenn sie weiter dem Papst die Treue halten. Manche christlichen Gemeinden, die der Staatskirche unterstehen, werden mit Geldern von christlichen Gemeinden aus dem Ausland unterstützt. Auch die Gläubigen in der Pekinger Südkirche, die zur Staatskirche gehört, fühlen sich Rom verbunden – wenn auch heimlich. „Wir beten trotzdem zu ihm“, sagt eine Frau und zieht aus ihre Tasche einen Schlüsselanhänger mit einem Papstporträt heraus. Sie habe zu Hause noch viele Anhänger, die sie an Freunde verteilt, berichtet sie. Allerdings müsse sie vorsichtig sein. „Ich nehme die Anhänger nur heimlich heraus.“

Quelle: http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/499132

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