Frau Zhu ist nicht allein. Auf einer Isomatte neben ihr nimmt eben Yake Zhou in dieser schneidenden Kälte den Lotussitz ein. Seine Arme verschränken sich und liegen entspannt auf seinem Schoß. Seine Augen schließen sich. Aus einem kleinen Kassettenrekorder klingt Musik. Yake meditiert. In der Göttinger Fußgängerzone. Bei minus 5 Grad. Drei Stunden lang.
„Wir bekommen durch unsere Übungen eine große, warme Energie. Wir frieren dann nicht“, sagt Li-Li Huang. Die Agraringenieurin promoviert zur Zeit über Fischzucht und ist Ansprechpartnerin der Göttinger Falun Gong Gruppe.
Falun Gong: Chinas Staatsfeind Nummer 1?
Als vor ein paar Monaten Falun Gong Anhänger ein Transparent auf dem Pekinger Tiananmen-Platz (es ist derselbe Platz, auf dem 1989 die Studentenunruhen mit Panzern niedergewalzt wurden) entrollen wollten, waren die chinesischen Ordnungshüter prompt zur Stelle. Alle Demonstranten wurden in Kleinbusse verfrachtet und ins Gefängnis gebracht. Durch die anwesenden Journalisten kam der Vorfall in die Presse. Die Meditationsbewegung als Chinas Staatsfeind Nummer 1?
Ursprünglich war das nicht so. Als Anfang der 80er Jahre das chinesische Regime seine restriktive Religionspolitik etwas lockerte, kam es zu einer großen Renaissance der Jahrtausend alten Qi-Gong Bewegung, eine Meditationsform, die wegen ihrer langen Tradition für China fast identitätsstiftend ist. Zahlreiche Qi-Gong Schulen entstanden. In Parks praktizierten zahlreiche Chinesen ihre allmorgendlichen Qi Gong Übungen.
100 Millionen Anhänger
Unter den zahlreichen Qi Gong Lehrern war auch der ehemalige Militärtrompeter und Handelsreisende in Sachen Speiseöl namens Li Hongzhi. Bald gründete er seine eigene Schule, trat aus dem Qi-Gong Verband aus und bereiste mit Vorträgen ganz China. Wenig später hatte er schon eine große Anhängerschaft. Die Anfänge von Falun Gong. Innerhalb weniger Jahre wurde Falun Gong in China zum Massenphänomen. Schätzungsweise 100 Millionen Anhänger lasen das von Li verfasste Werk „Zhuan Falun“ und praktizierten die dort angegeben Übungen. Auch der kommunistische Parteikader wurde von der Welle erfasst. Vor allem hohe Militärs ließen sich von „Meister Li“ bekehren, wie der Gründer von seinen Anhängern genannt wurde und wird. Für die atheistischen Machthaber wurde Falun Gong zu einem immer schwieriger zu kontrollierenden Risiko.
Hinrichtungen und Haftstrafen
Vor allem die Tatsache, dass sich viele Militärs Li angeschlossen hatten, verursachte Sorgenfalten in den Gesichtern der Machthaber. Als in der staatlich gelenkten Presse Verleumdungsartikel gegen Falun Gong erschienen, setzten sich die Anhänger auf ihre Art zur Wehr: In großer Anzahl demonstrierten sie schweigsam und friedlich. Als sich bei einer Demonstration in Peking mehrere Zehntausende versammelten, fasste die Regierung das als Affront auf und verbot Falun Gong. Eine Verhaftungswelle wurde in Gang gesetzt. In Schauprozessen wurden prominente Falun Gong Anhänger zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Auch vor Hinrichtungen schreckte Chinas Justiz nicht zurück.
Im chinesischen Gefängnis
Die Studentin Xiaoyang Zhu hielt sich zu dieser Zeit noch in China auf. „Nach dem Verbot konnten wir uns nur im Heimlichen treffen und unsere Übungen machen. Wir hatten ständig Angst, entdeckt zu werden-“ Eines Tages legte die Polizei, die inzwischen zu einer Jagd nach Falun Gong Anhängern geblasen hatte, dem Kreis um Zhu eine Falle. „Sie lockten uns in ein Haus, versperrten dann die
Türen und verhafteten uns.“ Einen Monat verbrachte sie im Gefängnis. „Wir waren 20 Frauen auf 20 qm. Das Fenster war dauernd geöffnet, wir hatten keine Decken und froren schrecklich.“ Erst durch ein „Verpflegungsgeld“ von 2000 Yen (250 Euro) kam sie frei, Doch: „Viele meiner Mitinsassinnen kamen aus armen Verhältnissen. Sie konnten sich den Betrag nicht leisten.“ Was aus ihnen geworden ist, weiß Zhu nicht. „Wahrscheinlich sitzen sie immer noch hinter Gittern“, fügt sie traurig hinzu.
Lehre von Li Hongzhi
Dabei kann die Lehre von Li Hongzhi schwerlich als staatszersetzend angesehen werden. „Unsere drei Leitlinien, nach denen wir handeln wollen, sind Zhen (Wahrhaftigkeit), Shan (Barmherzigkeit) und Ren (Nachsicht)“, sagt Li-Li Huang. Um so auch handeln zu können, müsse der Mensch, so Li Hongzhi, seine „Kultivierungsenergie“ vermehren. Das geschieht mit eigens von Li Hongzhi entwickelten Übungen, die aber ihre Wurzeln im Qi-Gong und dem Buddhismus haben. Es sind nur fünf Übungen, alle bestehen aus einer einfachen Folge von Bewegungen.
Im Gymnastikraum des Ifl trifft sich die Falun Gong Gruppe Göttingen immer sonntags von 11.00 Uhr bis 13.00 Uhr. Sieben Personen, ein Deutscher, fünf Chinesen und ein Mongole, sind versammelt. Dunkle Trommelschläge schallen über den Lautsprecher und Übung eins beginnt. Die Musik schwebt über dem Raum, eine Stimme aus dem Off gibt Bewegungsanleitungen auf Chinesisch und langsam gleiten Hände auf und nieder. Alles geht sehr langsam und mit sehr viel Redundanz vor sich. Die Hände beschreiben imaginäre Kreise und gleiten in fließenden Bewegungen um den Körper. „Mit diesen Übungen aktivieren wir unser Energiefeld. Sie geben uns Wärme, Kraft und Ausgeglichenheit“, erzählt Wang Xu.
Das heilige Buch „Zhuan Falun“
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