Spiegel Online, 09.04.02: Amnesty zum Jiang-Zemin Besuch

Folter und politische Verfolgung sind kein Thema beim Besuch von Chinas Staatschef Jiang Zemin in Deutschland – zu Unrecht. SPIEGEL ONLINE sprach mit Dirk Pleiter, dem China-Experten von Amnesty International, über die Menschenrechtssituation im Reich der Mitte und die „Leisetreterei“ der Bundesregierung.

SPIEGEL ONLINE: Erstmals seit zwölf Jahren wird bei der zurzeit in Genf tagenden Uno-Menschenrechtskommission wohl keinen Versuch geben, eine chinakritische Resolution einzubringen. Werden in China endlich die Menschenrechte eingehalten?

Dirk Pleiter: Eher im Gegenteil, die Situation hat sich in vielen Bereichen verschlechtert. Insbesondere die Religionsfreiheit ist gefährdet, betroffen sind da beispielsweise die Anhänger der Falun-Gong-Bewegung. Seit ihrem Verbot wurden die Anhänger zu Tausenden inhaftiert und gefoltert. Über 200 sind an den Folgen der Haft gestorben. Aber nicht nur die Falun-Gong, sondern auch Christen und vor allem Muslime sind bedroht. Nach dem 11. September hat die chinesische Regierung ihr unerbittliches Vorgehen in der autonomen Region Xinjiang, in der viele Muslime leben, deutlich intensiviert. Moscheen wurden geschlossen, muslimische Imame mussten Umerziehungsmaßnahmen über sich ergehen lassen.

SPIEGEL ONLINE: China wurde nach dem 11. September Mitglied in der Anti-Terror-Allianz. Bekommt das Land jetzt einen Anti-Terror-Rabatt, durch den der Bruch der Menschenrechte legitimiert wird?

Pleiter: Genau das befürchten wir. Die chinesische Regierung hat ihr verschärftes Vorgehen in Xinjiang mit der Terrorismusbekämpfung begründet. Doch dort wurde nicht zwischen extremistischen Gewalttätern und denjenigen unterschieden, die sich gewaltfrei für mehr Autonomie engagieren. Wenn jetzt im Ausland nicht klar gemacht wird, dass Terrorismusbekämpfung keine Entschuldigung für Menschenrechtsverletzungen sein darf, dann kann das als Zustimmung zur chinesischen Politik verstanden werden.

SPIEGEL ONLINE: Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch meldete, dass der Kampf gegen den Terror für einen Rückschlag bei der Beachtung der Menschenrechte sorge.

Pleiter: In China sind eindeutig Rückschritte festzustellen. Die Zahl der Todesurteile beispielsweise ist mit der Wiederbelebung einer Anti-Kriminalitätskampagne im April des vergangenen Jahres dramatisch angestiegen. Bis Ende Juni 2001 gab es mehr als 2960 Todesurteile und 1781 Hinrichtungen. Das waren weitaus mehr Tote als im ganzen Jahr zuvor. In China sind damit in diesen drei Monaten mehr Menschen hingerichtet worden, als auf der ganzen übrigen Welt in drei Jahren. Mit der Verschärfung der Anti-Terrorismus-Gesetze ist der Anwendungsbereich der Todesstrafe jetzt sogar noch ausgeweitet worden.

SPIEGEL ONLINE: Chinas Staats- und Parteichef Jiang Zemin ist gerade auf Staatsbesuch in Deutschland, aber die Menschenrechte stehen erst weit hinten auf der Tagesordnung.

Pleiter: Das ist für uns nicht nachvollziehbar. Das Thema Menschenrechte spielt bisher nur eine marginale Rolle in den deutsch-chinesischen Beziehungen, die rot-grüne Regierung wird ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht. Wir werfen der Bundesregierung eine Politik der Leisetreterei vor. China ist durch die wirtschaftlichen Veränderungen von großen sozialen Konflikten bedroht. Dabei ist es ganz wichtig, dass die Verlierer der politischen Reformen friedlich für ihre Rechte eintreten dürfen. Diese Menschen müssen aber bisher mit langen Haftstrafen rechnen. Die Chinesen gehen gegen unliebsame Kritiker unerbittlich vor. Wir haben dem Bundeskanzler dafür konkrete Fälle vorgelegt.

SPIEGEL ONLINE: Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Gerd Poppe, lobte vor kurzem: „Der Stellenwert, den die deutsche Außenpolitik Menschenrechtsfragen einräumt, ist immens gewachsen.“ Kann Amnesty International diese Aussage verifizieren?

Pleiter: Beim Beispiel China kann man das auf keinen Fall bestätigen. Die Bundesregierung verlässt sich hier vor allem auf den stillen so genannten rechtsstaatlichen Dialog. Dabei spielen die Menschenrechte bisher eine eher marginale Rolle. Es gibt keine konkreten Ziele, und es ist unwahrscheinlich, dass damit etwas erreichen wird.

SPIEGEL ONLINE: Demnach hat der 1999 von Bundeskanzler Gerhard Schröder und Chinas Premierminister Zhu Rongji vereinbarte Rechtsstaatsdialog, mit dem den Chinesen rechtsstaatliche Prinzipien nahe gebracht werden sollen, noch keine Erfolge gebracht?

Pleiter: Die Bundesregierung tut, als würde dieser Rechtsstaatsdialog etwas ganz Neues sein, dabei gibt es diesen Dialog schon lange. Die Bundesrepublik ist über die Europäische Union daran beteiligt. Bislang kann sie noch keine Ergebnisse vorweisen, die zu konkreten Verbesserungen der Menschenrechtssituation geführt haben.

SPIEGEL ONLINE: Wie sollte die Bundesregierung handeln?

Pleiter: Der Dialog kann nur erfolgreich sein, wenn es eine Reformbereitschaft der chinesischen Regierung gibt. Diese Bereitschaft zweifeln wir in vielen Bereichen an. Deshalb fordern wir von der Bundesregierung, dass sie diesen Jiang-Besuch nutzt, um die Frage der Menschenrechte nicht nur offen, sondern vor allem auch öffentlich anzusprechen. Wenn der Dialog mit öffentlicher Kritik und politischem Druck einhergeht, dann kann man konkrete Erfolge erreichen.

SPIEGEL ONLINE: Wie hat sich die Politik der Bundesregierung nach der Amtsübernahme von Rot-Grün verändert?

Pleiter: In der Anfangszeit von Rot-Grün hat es einige positive Signale gegeben. So wurden beispielsweise chinesische Dissidenten oder der Dalai Lama öffentlich empfangen. Da war die Kohl-Regierung viel ängstlicher. Außenminister Joschka Fischer hat vor der Uno-Menschenrechtskommission auch die Probleme in China genau benannt. Das waren aber einmalige Aktionen. Jetzt hat die Regierung den Rechtsstaatdialog entwickelt und versucht alles dorthin abzuschieben.

SPIEGEL ONLINE: Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Chinesen in der EU. Gäbe es da nicht wirksame Sanktionsmöglichkeiten?

Pleiter: Amnesty International ruft prinzipiell nicht zu Sanktionen auf. Man muss aber klar sehen, dass sich durch die wirtschaftlichen Reformen in China einiges verändert hat. Es gibt jetzt mehr Einflussmöglichkeiten.

SPIEGEL ONLINE: Gibt es auch aktive Amnesty-Gruppen in China?

Pleiter: Wir haben zwar eine Sektion in Hongkong, aber auf dem Festland gibt es keine Möglichkeit Strukturen aufzubauen. Im Gegenteil, Menschen, die dort aktiv werden, sind ernsthaft in Gefahr. Wir haben grundsätzliche Probleme, in direkten Kontakt zu chinesischen Behörden wie beispielsweise der Botschaft in Berlin zu kommen. Unsere Anfragen werden entweder gar nicht oder negativ beantwortet.

SPIEGEL ONLINE: Also bekommen Sie auch keinen Termin bei Jiang Zemin, der immerhin sechs Tage in Deutschland ist?

Pleiter: lacht… Ich muss ehrlich gestehen, dass wir das gar nicht erst versucht haben.

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