Die Presse (A): Hinter den Fassaden der chinesischen Glitzerwelt

WIEN (b. b.). Einen nüchternen Blick auf das Geschehen in der Volksrepublik China: Das ist es, was sich der exzellente China-Kenner Ulrich Schmid von westlichen Politikern wünscht. Schmid war vier Jahre für das Schweizer Weltblatt „Neue Zürcher Zeitung“ in Peking stationiert, bereiste das Land kreuz und quer. Bei einer Vortragsveranstaltung des Büros für Sicherheitspolitik in der Landesverteidigungsakademie zog der Schweizer Journalist Bilanz seiner China-Erfahrungen (jetzt ist er Mittelosteuropa-Korrespondent seines Blattes mit Sitz in Prag).

Seinen Appell zu einer realistischen China-Politik verpackte er in zwei konkrete Anregungen:
[*] Die westliche Politik, Diplomatie, Geschäftswelt müsse endlich damit aufhören, das Geschehen in China selektiv wahrzunehmen: „Man starrt auf die glitzernden Wolkenkratzer an der Ostküste Chinas und hält das für die Vorboten des neuen, permanent beschwerdefreien asiatischen Marktes. Die 800 Millionen bitterarmen Bauern aber, die es irgendwo im Westen Chinas auch gibt, die werden verdrängt.“ Die Faszination über die Glitzerwelt chinesischer Großstädte täusche viele westliche Besucher auch über die wahren politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Schmid: „So stabil China derzeit auch scheinen mag: Die Kluft zwischen Regierung und Volk wächst. Darin liegt die Gefahr.“

[*] Der Westen sollte seiner Ansicht nach auch den „unwürdigen“ Menschenrechtsdialog mit der chinesischen Führung sofort stoppen: „Nichts schadet den Dissidenten und der demokratischen Entwicklung Chinas so sehr wie diese Scheindebatte.“ Dieser Dialog verführe zum zynischen Tauschhandel mit den KP-Machthabern in Peking, und er erlaube es westlichen Politikern, die Menschenrechtsfrage ihren Delegationen zu überantworten, sich selber aber vor dem Thema zu drücken. Die Fakten aber sind laut Schmid eindeutig und können nicht so einfach beiseite geschoben werden: „In China werden die Menschenrechte mit Füßen getreten, immer noch und immer mehr. Die Bürger sind entmündigt, dürfen ihre Regierung nicht wählen, dürfen sich nicht frei versammeln und dürfen keine Parteien bilden. Die Justiz spricht nicht Recht, sondern sichert die Herrschaft der Partei. Unzählige haben ihre Freiheit wegen ,konterrevolutionärer Umtriebe&#039 verloren; kein Land hat mehr politische Gefangene. Tausende werden jährlich hingerichtet, viele nach zweifelhaften Prozessen.“

Scharf ins Gericht ging der NZZ-Korrespondent auch mit Pekings Minderheitenpolitik. Er hat während seiner China-Jahre nichts von der offiziell verkündeten Harmonie der 55 Ethnien entdecken können. Vor allem für Mongolen, Uiguren und Tibeter sieht Schmid keine Chance auf nationale Selbstbestimmung und kulturelle Renaissance über unverbindliche Folklore hinaus, solange die Zentralmacht ihren eisernen Griff nicht etwas lockern würde.

Schmid wies auch auf das in der Weltöffentlichkeit weitgehend unbekannte Faktum hin, dass Peking Anfang der Neunziger eine irredentistische Bewegung in der Inneren Mongolei mit allergrößter Härte niedergeschlagen habe. 200 Anführer der Erhebung, die nach Ulan Bator in der Mongolei hatten fliehen können, „sind vom chinesischen Geheimdienst innerhalb von zwei Jahren allesamt liquidiert worden. Niemand hat überlebt.“

16.05.2003 Die Presse / Wien

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