Die Welt (D): Hu Jintao erweckt Stalin zum Leben

Die chinesische KP setzt in neuen Schulmaterialien auf alte Ideologen
von Johnny Erling

Peking – Chinas Partei- und Staatsführer Hu Jintao, der seit letztem November im Amt ist, hat mit seinem dynamischen Auftreten im In- und Ausland bei Beobachtern Hoffnungen auf frischen Wind in seiner Politik und auf eine innerparteiliche Demokratisierung ausgelöst. Eine Woche nach seiner Modernisierungsrede zum 82. Gründungstag der KP Chinas am 1. Juli wird indes deutlich, dass das ideologische Pegel auf Verfestigung des alten Kurses ausschlägt.

Experimente mit politischen Reformen sind aus Angst vor dem Verlust an Stabilität vorerst von der Tagesordnung abgesetzt worden. Am Wochenende verkündeten die Parteizeitungen auf ihren Titelseiten, dass die 67 Millionen Mitglieder der KP autoritatives Schulungsmaterial zum Selbstverständnis der allein herrschenden Partei erhalten: „Marx, Engels, Lenin, Stalin, Mao Tse-tung, Deng Xiaoping und Jiang Zemin über den fortschrittlichen Charakter der Partei der Arbeiterklasse“.

Überraschend macht die KP den Tyrannen Stalin wieder gesellschaftsfähig. Peking hatte den Georgier Jossif Wissarionowitsch, genannt Stalin, offiziell zwar nie aus dem Pantheon der Klassiker verstoßen. In der Praxis aber wollte ein marktwirtschaftlich reformiertes und pragmatisch gewordenes China mit dem weltweit verfemten Massenmörder nichts mehr zu tun haben. Sein zu Feiertagen einst errichtetes Standbild verschwand Ende der neunziger Jahre ohne jede Erklärung vom Platz des Himmlischen Friedens.

Im Pekinger Buchladen des Parteiverlags kann man sich heute nicht mehr erinnern, wann zuletzt eines seiner Werke in den Regalen vor sich hinstaubte. Stattdessen werden die Schriften seiner Opfer Trotzky oder Bucharin, die Geheimrede Chruschtschows zur Entstalinisierung 1956, Enthüllungsliteratur über die Feindschaft zwischen Stalin und Mao bis hin zu den übersetzten Romanen von Solschenyzin verkauft.

Von Partei wegen wurde Stalin nur ein Mal wieder belebt. Als die Parteiführung 1999 das Land zur Hetzjagd auf Falun Gong mobilisierte, ließ sie eine Broschüre für die Parteimitglieder über die Ansichten aller marxistischen Klassiker, auch Stalins, zum Atheismus drucken. Zweck der Übung: Pekings Führung holte sich theoretische Schützenhilfe für ihren unpopulären Kampf gegen Falun Gong.

„Heute holen sie Stalin aus der Versenkung, um deutlich zu machen, dass es vorerst keine Experimente mit innerparteilicher Demokratie geben wird, und um liberale Kräfte zu erschrecken“, kommentierte ein Parteitheoretiker. „Lesen tut das niemand.“ Das Aufwärmen der Uralt-Zitate passe auf die ohne neue Ideen auskommende Rede Hu Jintaos zum 1. Juli.

Weil die Pekinger Führung unter Einfluss des alten Parteichefs Jiang Zemin Gefahren für die Stabilität befürchtet, musste Hu auf seine einstigen Forderungen nach einer „neuen politischen Kultur der Partei“ verzichten. Stattdessen reihte er ideologische Leerformeln aneinander, versprach, auf die Balance von Reform und Stabilität zu achten und „an den vier sozialistischen Prinzipien“ festzuhalten.

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