Der Erlass des Königs Wei: Rückmeldungen aus der Bevölkerung erwünscht

Die folgende Geschichte spielt in der Zeit der streitenden Reiche (475 v. Chr. bis 221 v. Chr.) und referenziert zu der damalig populären Denkschule des Legalismus.

Im Legalismus liegt das Hauptaugenmerk auf dem Herrscher, dessen Aufgabe es ist, ideale Gesetze zu schaffen, die das reibungslose Funktionieren des Staates gewährleisten. Normalerweise möchten Menschen Bestrafung vermeiden, aber persönliche Vorteile gewinnen.

Um das Verhalten der Bürger zu lenken und die Stabilität des Staates zu erhalten, sind die Gesetze so zu formulieren, dass sie jene belohnen, die sie befolgen. Unerwünschtes Verhalten hingegen wird spürbar bestraft.

Deshalb ist es ein Gewinn, wenn die privaten Interessen der Bürger und die des Gesetzgebers in eine ähnliche Richtung gehen, wie in dieser Geschichte:

Der Minister mit dem Namen Zouji war sehr groß gewachsen, muskulös und überdurchschnittlich gut aussehend. Eines Morgens, als er vor dem Spiegel die Uniform anzog, fragte er seine Frau: „Wer von uns ist attraktiver, Graf Xu oder ich?“

„Natürlich bist du der Schönere“, antwortete seine Frau.

Graf Xu war laut gängiger Meinung der attraktivste Mann im ganzen Qi-Staat. Obwohl seine Frau ihn schöner fand, war er sich im Herzen gar nicht sicher, dass dies auch den Tatsachen entsprach.

Im Laufe desselben Tages richtete er die gleiche Frage an seine Konkubine und an einen Besucher. Beide antworteten, dass sein Aussehen nicht vergleichbar sei mit dem von Graf Xu. Zouji sei eindeutig der attraktivere Mann.

Wenige Tage später besuchte Graf Xu den Minister Zouji in seinem Herrenhaus. Während die beiden Männer sich unterhielten, musterte Zouji sein Gegenüber und fand, dass Graf Xu wirklich stattlich aussah. Ein Blick in den Spiegel bestätigte es ihm: in einem Vergleich würde er in puncto Schönheit klar unterliegen.

Zouji erkannte, dass seine Frau ihn schöner fand, weil sie ihn liebte. Seine Konkubine fand ihn attraktiver, weil sie ihn fürchtete und sein Gast wollte etwas von ihm, also würde er wohlweislich nichts Gegenteiliges sagen. Sie alle hatten seine Frage nicht wahrheitsgemäß, sondern gemäß ihren Eigeninteressen beantwortet.

Eine Weile später traf der Minister auf den König Wei des Qi-Staates und erzählte ihm die Geschichte. Er schloss: „Ich wusste gar nicht, wie gut aussehend Graf Xu ist, aber meine Frau, meine Konkubine und mein Gast sagten, dass ich der attraktivere Mann sei. Sie beantworteten die Frage so, weil sie mich zufriedenstellen wollten auf Kosten einer ehrlichen Rückmeldung.“

„Ich möchte unserem König folgende Frage stellen: Unser Qi-Reich ist sehr groß und umfasst 120 Städte. Die Königin und alle Konkubinen lieben sie. Alle Minister fürchten ihren Zorn und die Bevölkerung wendet sich an ihren Herrscher, um Hilfe von ihm zu bekommen, egal ob berechtigt oder nicht. Wie wahrscheinlich ist es, dass einer von ihnen dem König jemals die Wahrheit erzählt hat? Gibt es jemanden im Lande, von dem der König glaubt, die Wahrheit berichtet zu bekommen?“

Der König fand den Gedanken seines Ministers interessant und vernünftig. Er schrieb einen Erlass, in welchem alle Bürger des Landes eingeladen wurden, dem König seine Fehler mitzuteilen. Wer ihm diese direkt vortrüge, würde eine große Belohnung, wer seine Rückmeldung schriftlich einreiche, eine etwas kleinere Belohnung erhalten.

Nachdem der Erlass verkündet worden war, hagelte es Rückmeldungen von Ministern und Bewohnern aus allen Landesteilen. Sie alle wollten seine Fehler und Unzulänglichkeiten zurückmelden und dafür eine Belohnung erhalten. Während mehrerer Monate versammelte sich täglich eine große Menschenmenge im königlichen Hof. Der König hörte sich die Reden jedes einzelnen an und nahm ihre Kritik und Vorschläge entgegen. Die guten Ideen setzte er um.

Mit der Zeit kamen immer weniger Menschen zum Hof, irgendwann waren es nur noch einzelne Personen. Das Resultat dieser Übung ließ sich sehen: wirtschaftlich und militärisch erstarkte das Qi-Reich, was von den anderen Territorien bemerkt wurde. Sie bewunderten den König, als sie von seinem Erlass hörten. Sie fanden, es spreche für seine Weisheit, das Land zu stärken, ohne dafür einen Krieg anzuzetteln oder die Waffenstückzahl zu erhöhen.

Quellen:
„The Ministers handsome advice“ aus dem Buch „Treasured Tales of China Vol 3.“ Seite 138,Classical Poets Publishing, Mount Hope New York, 2020.
https://ctext.org/hanfeizi
https://www.britannica.com/biography/Han-Feizi
https://www.exlibris.ch/de/buecher-buch/englische-ebooks/burton-watson/han-feizi/id/9780231521321/
https://theprint.in/opinion/eye-on-china/not-sun-tzu-or-confucius-xi-jinping-elite-chinese-politicians-are-reading-this-philosopher/969152/

Alle Artikel, Grafiken und Inhalte, die auf Yuanming.de veröffentlicht werden, sind urheberrechtlich geschützt. Deren nicht-kommerzielle Verwendung ist erlaubt, wenn auf den Titel sowie den Link zum Originalartikel verwiesen wird.

Das Neueste

Archiv

Weitere Artikel zu diesem Thema