Time Magazine: Geiseln des Staates – Ein Mord, der die Nation schockte, deckt die Brutalität von Chinas System außerrichterlicher Gefangenschaft auf


Sun Liusongs Sohn, Sun Zhigang, wurde im März 2003 in einer Strafanstalt zu Tode geprügelt

Hätte es anders geendet, hätte Sun Zhigangs Leben ein Testament des Fortschritts seines Landes sein können. Der 27jährige Sohn eines Zimmermanns hatte sich seinen Weg aus einem entlegenen Dorf in Chinas zentraler Provinz Hubei zur Universität der Provinzhauptstadt Wuhan erarbeitet. Er graduierte in Kunst und zog dann später nach Guangzhou und bekam eine Stelle als Grafikdesigner und die Chance, sich ein Heim in Chinas aufsteigender, glänzenden Stadt aufzubauen. Aber nach drei Wochen in seinem neuen Leben hörte Suns Glück auf. Auf seinem Weg zu einem Internetcafé wurde er von der Polizei gestoppt und nach seinem Ausweis gefragt. Sun sagte, dass er ihn in seiner Wohnung gelassen hatte, woraufhin ihn die Polizei zu einer nahgelegenen Wache mitnahm. Als am nächsten Morgen sein Chef und seine Freunde mit seinen Papieren vorbeikamen, war Sun bereits in eine Strafanstalt für Landstreicher gebracht worden. Zwei Tage später, am 20. März, war er tot – das Opfer brutaler Prügel im Krankenhaus der Anstalt.

Letzte Woche legte ein Gericht in Guangzhou in einem streng geheimen Verfahren harte Strafen für die Schuldigen an Suns Tod fest, darunter auch zwei Todesstrafen. Unter den Verurteilten war auch eine Krankenschwester, von der behauptet wurde, sie habe anderen Insassen befohlen, Sun zu verprügeln. Die Insassen wurden als Komplizen beschuldigt. Aber der Hauptkomplize an Suns Tod wurde freigesprochen. Der Großteil der Verantwortung für Suns Tod fiel auf ein wenig bekanntes System der Haftverwaltung – d.h. die Haft außerhalb des kriminellen Justizsystems – was zur Folge haben kann, dass chinesische Bürger einfach verhaftet werden, weil sie zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort waren. „Gewahrsam und Rückführung“ – wie dieses System beschönigend genannt wird – existiert, um Gesetze durchzusetzen, die verarmte ländliche Bewohner davon abhalten sollen, die wohlhabenderen Städte des Landes zu überfüllen. Offiziell sind „Gewahrsam- und Rückführungs- (G.- und R.-) Anstalten“ verantwortlich, Landstreicher, Bettler und diejenigen, die ohne Genehmigung in der Stadt leben, einzusperren und in ihre Heimatorte zurückzubringen. In Wirklichkeit, so sagen Menschenrechtsexperten und diejenigen, die dieses System aus erster Hand erfahren haben, ist es ein entsetzlich willkürliches und routinemäßig missbrauchtes Instrument der Staatsmacht, das schlimmstenfalls nicht viel mehr als ein von der Polizei durchgeführter Entführungs- und Erpressungskomplex ist.

Weil die meisten der 3 Millionen Menschen, die sich jährlich in den G.- und R.-Anstalten wiederfinden, zu der fluktuierenden Bevölkerung von Wanderarbeitern gehören – die niedrigste der unteren Schichten in Chinas schnell wieder auftauchenden Klassenpyramide -, wird dazu geneigt Misshandlungen, außer in ausgemachten Fällen, zu übersehen. Obwohl es einige dieser Fälle in die nationale Presse geschafft haben, entlocken sie kaum Rufe nach Reformen herbei.

Bis heute. Seit eine Zeitung aus Guangzhou, die Southern Metropolis News, Ende April einen detaillierten Bericht über Suns Fall veröffentlichte, sind Chinas Medien, akademische Kreise und Internet Chat Rooms voll mit Forderungen nach Reformen und sogar der Abschaffung dieses Systems. Suns Status als akademischer Aufsteiger im Gegensatz zu einem arbeitslosen Landarbeiter hat das Feuer des weit verbreiteten Skandals angefacht. „Du wurdest eingesperrt, weil Du kein Schoßtierchen oder Sklave warst“, hieß eine der vielen im Internet veröffentlichten Lobreden auf Sun. Kraft verlieh diesem Aufschrei die Tatsache, dass Chinas kürzliche Erfahrungen mit SARS öffentliche Sorge über eine gute Regierung erregt hat. Zwei Gruppen von Pekinger Rechtswissenschaftlern haben Petitionen beim Nationalen Volkkongress eingereicht und fordern darin eine Untersuchung von Suns Fall und eine Diskussion darüber, dass das G.-und R.-System nach mindestens zwei separaten chinesischen Gesetzen illegal ist. „Dieser Fall ist ein nationales Ereignis geworden“, sagte Xiao Han, ein Autor einer der Petitionen. „Die Regierung hat keine andere Wahl, als sich dessen anzunehmen.“

Nur wenige rechnen damit, dass sich das System bald ändern wird. Das G.-und R.-System ist so alt wie die Volksrepublik. Seit seinem ersten Einsatz in 1950, wo es dazu diente, herumlungernde nationalistische Truppen aus gerade von den Kommunisten befreiten Städten wegzuschaffen, hat es immer in der ein oder anderen Form existiert. Und obwohl Chinas Führung die Notwendigkeit der Mobilität der Bevölkerung für das Wirtschaftswachstum erkannte, fürchten sie, dass die Bewegungsfreiheit Städte mit Flüchtlingen der verarmten ländlichen Gegenden überschwemmen würde. Außerdem ist der G. und R.-Apparat eine bequeme Weise, mit allerlei unerwünschten Dingen zu verfahren. Zum Beispiel geraten diejenigen, die zum Petitionieren nach Peking gehen und sich bei der Regierung über die lokale Korruption beschweren, in dessen Fänge. „Da China keinerlei Mechanismen oder juristischen Apparat hat, um sicherzustellen, dass seine Regierungspolitik ihren eigenen Gesetzen folgt“, sagt ein Rechtswissenschaftler aus Peking, der anonym bleiben möchte, „wird sich nichts ändern, bis es jemand an der Spitze so will.“

Zunächst schien die Art, wie der Prozess von Suns Familie gegen Guangzhous Regierung ausgegangen war, ein aufschlussreicheres Zeichen von dem zu sein, was noch kommen wird. Der Druck der Medien bedeutete, dass eine beispiellose Anzahl von Staatsangestellten diszipliniert wurden. Aber die provinzielle Regierung von Guangdong gab eine Erklärung ab, dass seine G.- und R.-Verfahren mit der nationalen Politik übereinstimme. Suns Vater erhielt in der Zwischenzeit einen Ausgleich von $53.000 – und ein Polizeiteam, so sagte er Time, hielt ihn davon ab, den Fall mit den Medien zu diskutieren. Nicolas Becquelin, Forschungsdirektor der ‚Menschenrechte in China’ Organisation, mit Sitz in New York, bemerkt: „Es musste ein Sündenbock für ein Problem gefunden werden, das viel größer als dieser Fall ist. Die Gerichtsverhandlung war unglaublich schnell vorüber und wie sonst auch verschleiert. Dies erlaubte den darin verwickelten Autoritäten verantwortlich zu wirken, ohne tatsächlich irgendetwas ändern zu werden.“

Die Bedingungen in diesen G.- und R.-Anstalten sind so entsetzlich, sogar angesichts der grausigen Zustände in Chinas Strafanstalten, dass sie nicht für immer geheim bleiben werden. Tong Yi, eine New Yorker Anwältin und Menschenrechtsaktivistin, die zeitweise sowohl in einem Arbeitslager zur Umerziehung in ihrer Heimatstadt Wuhan, als auch in Pekings hauptsächlicher G.- und R.-Anstalt verbracht hat, bevor sie schließlich politisches Asyl in den Vereinigten Staaten bekam, schildert höllische Szenen, wo gesunde Kinder und Erwachsene zusammen mit Geisteskranken eingesperrt werden. „Das Leben in der Anstalt ist chaotisch und dreckig“, erinnert sie sich. „Es gab kein Trinkwasser, bloß einen Wasserhahn für 100 Leute und Nahrung war sogar noch knapper und von schlechterer Qualität, als in meinem Arbeitslager.“ Prügel vom Personal der Anstalt und Vermögensverwaltung durch Insassen kommen häufig vor,“ sagt Tong, „Insassen wurden häufig festgehalten, bis ihre Familienangehörigen genügend Lösegeld zusammengekratzt hatten, um sie freizukaufen.“ Tatsächlich deckte Gou Xianli, ein Buchhalter einer G.- und R.-Anstalt in der Provinz Hunan, gerade einen Tag nach dem Urteilsspruch in Suns Fall auf, dass seine Kollegen einen Entführungs- und Erpressungsring mit der Polizei von Lianyuan bildeten und in vier Jahren damit beinahe $400.000 Gewinn gemacht hatten. Sie versprachen reisenden Landarbeitern freie Mahlzeiten. Guo berichtete der Sanxiang Metropolis News: „Ohne zu zahlen, können sie nicht hinaus. Wenn sie zu sehr schreien, verprügeln die Mitarbeiter sie so schlimm, dass sie nicht mehr darum bitten, wieder nach Hause gehen zu dürfen.“

Solche Gaunereien scheinen allgemein üblich zu sein. Außerhalb der Tore von Changpings G.- und R.-Anstalt am Stadtrand von Peking, steht Liu Yan im Regen und hofft auf Nachrichten von seiner 28jährigen Tochter, die aus der nordöstlichen Provinz Heilongjiang in den Süden kam, um in einer Strickfabrik zu arbeiten. Vor über einem Monat hat er den Kontakt zu ihr verloren, aber es ist nicht länger als eine Woche her, als er von einem Angestellten der Anstalt einen Anruf bekam, seine Tochter sei aufgegriffen worden und er müsse nach Peking kommen und $600 zahlen – mehr als das doppelte Jahreseinkommen für einen ländlichen Haushalt – um sie wiederzubekommen. „Die Polypen sagen, falls wir nicht zahlen, behalten sie sie für sechs Monate hier“, sagte Lius Frau. „Wir haben versucht, den Preis herabzusetzen. Sie haben uns nicht mit unserer Tochter sprechen lassen. Wir wissen nicht, was wir tun sollen.“ Als ein weißer Transporter heranfährt und eine weitere Gruppe gefesselter Gefangener abliefert, gehen Liu und seine Frau hinein, um über die Freiheit ihrer Tochter zu verhandeln. Mit Glück werden ihre Ersparnisse ihre Rettung sein.

– mit Berichten von Neil Gough/Guangzhou

Original: http://205.188.238.181/time/asia/magazine/article/0,13673,501030623-458835,00.htm

Übersetzt aus dem Englischen: http://www.clearharmony.net/articles/200306/13314.html
Übersetzt: Freitag, 27. Juni 2003

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