Besuch des Weihrauchtempels
Von Wang Wie
„Weil ich nicht wusste, wo der Tempel war,
wanderte ich viele Meilen über wolkige Hügel,
durch uralte Pinienwälder, ohne richtigen Pfad,
dem Glockengeläut nach, das über tiefe Abgründe erschallte.
Ströme gurgelten über hohe Felsen.
Kalte Sonne in Tannenzweigen.
Nachts am Bergsee sitzend,
Suchte ich den Drachen zu beherrschen.“
Lebensgeschichte von Wang Wei
Wang Wei (699- 761) war neben Li Bai und Du Fu einer der großen Poeten der frühen Tang Dynastie. Sein Vater war ein örtlicher Beamter und seine Mutter entstammte einer hervorragenden literarischen Familie. Mit 16 Jahren wurde Wei mit seinem Bruder zusammen in die Gesellschaft der Tang Hauptstadt Chang’an eingeführt, die damals die größte Stadt der Welt war. Mit 23 ging er durch die Shin-shi (Examen, welche Du Fu nicht bestand und dass Li Bai nie machte.), was ihm den Eintritt in literarische und offizielle Kreise garantierte.
Als ein Mann außerordentlicher Begabungen – Höfling, Verwaltungsexperte, Dichter, Kalligraph, Musiker und Maler – wurde Wang sofort zum stellvertretenden Sekretär für Musik ernannt, was er selbst als lästig zu empfinden schien. Nach einer kleinen Taktlosigkeit wurde er in die Provinz Shantung abgeschoben, wo er für einige Jahre blieb, ehe er zurücktrat und nach Chang’an zurückkehrte. Er heiratete und machte sich daran, einen Landbesitz in den Hügeln von Chang’an südlich der Hauptstadt auszubauen, zu dem er heimging, so oft es ihm möglich war.
Als Wang 30 war, starb seine Frau und er heiratete nie wieder. Der Dichter kehrte ein paar Jahre später in den Staatsdienst zurück, wobei er seine Zeit zwischen Aufgaben in Chang’an und anderen Aufgaben aufteilte, unter anderem absolvierte er drei Jahre Frontdienst an der Nordwestgrenze. Im Jahre 750, in dem seine Mutter starb, zog er sich zum Schreiben, Malen und Meditieren in sein geliebtes Chang’an zurück.
Viel mehr als der sprunghafte Li Bai oder der freimütige Du Fu war Wang ein erfolgreicher Beamter. Er sammelte Vermögen an und spendete großmütig davon viel an Klöster, geriet aber durch die Lushan- Rebellion von 755- 759 in Schwierigkeiten. Von den Rebellen geschnappt, war Wang gezwungen, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Dafür wurde er kurzzeitig gefangen gesetzt, als die kaiserliche Ordnung wieder hergestellt war. Immer noch ein wertvoller Mann, kehrte Wang in den Staatsdienst zurück und gehörte bis zu seinem Tode im Jahre 761 dem Staatsrat an. Bescheiden und mit außerordentlichen Gaben versehen, wurde Wang zum Vorbild eines gelehrten Beamten; seine 400 Gedichte finden sich in vielen Gedichtsammlungen.
Es ist klar, dass Wang Weis innerlich schwierige seelische Kämpfe ausfocht, um mit seinen tiefen Empfindungen fertig zu werden, die sich in seinen Gedichten offenbaren und die ihn in der Zeit vom Tod seiner Frau und seiner Mutter überwältigten. Als konfuzianisch geprägter Beamter sah er es als seine Pflicht an, mit seinen großen Begabungen dem Staat zu dienen und so kehrte er immer wieder in den Staatsdienst zurück, auch, wenn er nie die höchsten Posten innehatte. Als taoistischer Künstler benutzte er seinen Zufluchtsort am Wang Fluss, um wieder mit der Natur in Einklang zu kommen. Er nutzte die Poesie, das Malen und die Musik als Mittel zu seiner Kultivierung. Seine Werke sind oft vom Kultivierungsstandpunkt aus verfasst; in ihnen wird der Schönheit der Natur Beachtung geschenkt, jedoch mit dem Bewusstsein darüber, dass diese nur eine Illusion durch unsere Sinne ist.
Der äußere Sinn des Gedichts
Die Eröffnungsstrophe führt uns in einen antiken Tempel im stillen Wald tief im Gebirge.
In diesem Gedicht drückt Wang Wei seine Sehnsucht nach Ruhe und Erleuchtung aus, in der er seine weltlichen Gewohnheiten ablegt. Er versucht, „den Drachen der Wünsche“ zu beherrschen. Die Allegorie mit dem Drachen stammt aus einer Geschichte der buddhistischen Schriften. Es war einmal ein Drache, der lebte in einem See und fügte vielen Menschen Schaden zu. Schließlich vertrieb ihn ein gelehrter Mönch mit Hilfe der Macht des Buddhagebots. Hier steht der Drache für die weltlichen Wünsche in der menschlichen Welt.
Was sich hinter den Zeilen verbirgt
Wang Wei hatte von dem Weihrauchtempel gehört, wusste aber nicht, wo der war. Er beschließt, müßig in den Bergen zu wandern in der Hoffnung, dass ihn seine Füße zu dem Tempel führten. Das zeigt seine entspannte, unbekümmerte Natur. Nach etlichen Meilen ist er erstaunt, sich hoch in den Bergen zu finden, von Wolken und Nebel umgeben. Das erzeugt den Eindruck, dass der Weihrauchtempel ruhig, weit weg, groß und daher geachtet ist. Während Wang Wei durch einen Wald hochragender alter Bäume wandert, die bis an den Himmel reichen, hört er plötzlich den Klang einer großen Glocke aus einer weiten Entfernung, er kann aber nicht genau sagen, aus welcher Richtung er kommt. Die Ruhe und Stille des Tempels sind tief und fesselnd, die Luft voller Geheimnisse und Illusionen. Die gewundene Quelle windet sich ihren Weg an den zerklüfteten Felsen entlang, als ob sie leise über die Sorgen und Schmerzen des Lebens schluchze und seufze. Die purpurfarbenen Wolken bei Sonnenuntergang haben die uralten Pinien nicht verblassen lassen. Die grünen Pinien sehen sogar noch würdevoller und gelassener aus, da sie jahrelang Wind und Stürme überstanden haben. Vor dem riesigen und geheimnisvollen See in der Dämmerung ist Wang Wei frei von weltlichen Gedanken. Natürlich möchte er sich gern von allen selbstsüchtigen Wünschen und anderen weltlichen Gedanken durch Meditation befreien.
Wang Wei, der große Poet und Maler der großen Tang Dynastie, malte in seinen Gedichten unzählige schöne Szenen voller Klängen und Farben. Jedes Bild, das er in Worten malte, trägt die einzigartige Sehnsucht des Dichters, sein letztes Ziel zu erreichen, nämlich sein Herz zu veredeln und sich über die menschliche Welt zu erheben.