NZZ (Schweiz): Hält China Australien im Griff?

Ein chinesischer Diplomat, der vor einigen Wochen in Australien um politisches Asyl ersucht hat, ist von Canberra eher widerwillig mit einem Aufenthaltsvisum ausgestattet worden. Der aufsehenerregende Fall provozierte die Frage, ob Australien zur Pflege der Wirtschaftskontakte mit Peking über politische Probleme hinwegsehe.

ruh. Sydney, Mitte August

Der Mann, der eben den Raum betreten hat, wirkt mehr zurückhaltend als entschieden. Doch der Chinese Chen Yonglin hat alle Brücken hinter sich abgebrochen, und zwar ohne zu wissen, ob sich neue bauen liessen. Chen, noch vor drei Monaten Erster Sekretär des chinesischen Generalkonsulats in Sydney, hatte eines Tages im Mai sein Amt verlassen, um heimlich bei der australischen Immigrationsbehörde vorzusprechen und um politisches Asyl zu ersuchen. Als ihm abschlägiger Bescheid erteilt wurde und in ihm sogar der Verdacht aufkeimte, die australische Behörde habe chinesische Stellen informiert, tauchte er mit seiner Familie in Angst um sein Leben unter.

Vom Saulus zum Paulus

Inzwischen hat Chen ein australisches Aufenthaltsvisum erhalten. Durch die enorme Publizität, die sein Fall erregte, blieb Canberra wohl nicht viel anderes übrig. Sicher fühlt sich Chen aber trotz seiner Niederlassungsbewilligung nicht. Zum Treffen mit einer Gruppe Journalisten kommt er auf verschlungenen Wegen. Schliesslich hatte er selbst behauptet, der chinesische Geheimdienst schrecke auch vor Entführungen von Regimegegnern im Ausland nicht zurück; eine Aussage, die er im Gespräch indirekt wiederholt.

Was Chen über das Regime seines Heimatlands, dem er bis vor kurzem als Karrierediplomat gedient hat, erzählt, steht in Kontrast zur optimistischen Stimmung, die die australisch-chinesischen Beziehungen seit einiger Zeit prägt. Der heute 37-jährige Mann war 1991 in den Dienst des Aussenministeriums eingetreten, trotz Ernüchterung über das Tiananmen-Massaker 1989. Zweifel über die Natur des Regimes unterdrückte er, um seine Karriere nicht zu gefährden. Doch als er später auf Aussenposten in Fidschi erfuhr, wie viel Geld Peking aufwendete, um südpazifische Inselstaaten von einer Anerkennung Taiwans abzuhalten, statt diese Mittel beispielsweise zur Linderung der Armut in Westchina einzusetzen, liessen sich Zweifel nicht mehr zurückschieben.

Dann kam die Versetzung nach Sydney und mit ihr die Aufgabe, Regimekritiker und namentlich die Anhänger von Falun Gong zu beobachten. Das wenige, was er damals von dieser Gruppierung wusste, war das Negative, das ihm von der offiziellen Propaganda eingetrichtert worden war. Als er angefangen habe, sich selber mit dem Gedankengut von Falun Gong auseinanderzusetzen, habe er festgestellt, dass es sich keineswegs um gefährliche Extremisten handle, sondern um Leute, die Prinzipien wie Aufrichtigkeit und Solidarität hochhielten. «Prinzipien, die im kommunistischen China längst verloren gegangen sind», sagt Chen ernüchtert.

Wer wie Chen jahrelang als Rädchen in einem totalitären System seinen Dienst getan hat und dann plötzlich einen Richtungswechsel vollzieht, sieht sich der misstrauischen Frage ausgesetzt, warum ihm sein Gewissen erst jetzt den Absprung befohlen habe. In einer freien Gesellschaft ohne den Zwang, sich irgendwie durchschlängeln zu müssen, lässt sich eine solche Frage allerdings leicht stellen. Chen räumt ein, dass sich negative Erfahrungen zwar graduell aufgebaut hätten, aber für den Bruch lange zu wenig drängend gewesen seien. Der Entscheid sei erst aus seiner Desillusionierung über die nachrichtendienstliche Tätigkeit gegen Falun Gong und Chinesen im Ausland allgemein entstanden. Die Version der chinesischen Botschaft in Australien lautet hingegen, Chens Zeit in Sydney habe sich dem Ende zugeneigt und er habe nicht weggehen wollen.

Wurden früher abgesprungene Diplomaten aus kommunistischen Ländern im Westen mit offenen Armen empfangen, so erweckt das Verhalten der australischen Stellen eher den Eindruck, man habe es bei Chen mit einem Störfaktor zu tun. Die Beziehungen zwischen Canberra und Peking entwickeln sich derzeit äusserst dynamisch, namentlich auf wirtschaftlichem Gebiet. Australische Rohwaren wie Kohle, Eisenerz, Basismetalle, Flüssiggas und demnächst vielleicht auch Uran werden von Chinas wachsender Wirtschaft mächtig nachgefragt und bescheren den australischen Produzenten Rekordgewinne. Auf Regierungsebene sind Gespräche über ein Freihandelsabkommen aufgenommen worden.

Canberra auf pragmatischem Kurs

Wirtschaftskontakte und Menschenrechte pflegt man in Canberra fein säuberlich zu trennen. Aussenminister Downer charakterisierte die Beziehungen zu Peking jüngst in einer Rede als positiv und pragmatisch, ohne dass man sich der Illusion hingebe, es gebe keine Differenzen. Man sei sich der Unterschiede der politischen Systeme und der Betrachtungsweise in einigen Fragen, etwa bezüglich Menschenrechte, bewusst. Doch die Kontakte seien tief genug, um Meinungsverschiedenheiten verkraften zu können. Der Aufbau von Beziehungen, von denen beide Seiten profitierten, werde dadurch nicht behindert. Downer stellte auch in Abrede, dass sich Australien in der Zukunft (etwa vor dem Hintergrund eines Konflikts um Taiwan) davor gestellt sehen könnte zu entscheiden, wer nun der wichtigere strategische Partner sei: die USA oder China. Er hält es nicht für wahrscheinlich, dass eine strategische Rivalität zwischen den USA und China entsteht, die destabilisierend verlaufen könnte. Wer diese Sichtweise vertrete, verkenne sowohl die Unterschiede in den Beziehungen Australiens zu den USA beziehungsweise China als auch die Natur der Beziehungen zwischen Washington und Peking.

Was die Informationen angeht, die Chen der Öffentlichkeit anzubieten hatte, reagierten die USA allerdings deutlich anders als Australien. Chen wurde zu einem Hearing in den Kongress eingeladen und dort als mutiger Mann bezeichnet. Bei seinem Washingtoner Auftritt, erklärt Chen, habe er an die westlichen Länder appelliert, den chinesischen Wolf im Schafspelz nicht länger zu füttern. In Sydney enthält er sich zwar sorgfältig jeder Stellungnahme zur Politik, die sein neues Aufenthaltsland gegenüber China betreibt. Hingegen unterstreicht er, dass Pekings Strategie im Dreieck mit Washington und Canberra darin bestehe, Australien mehr in den Einflussbereich Chinas zu rücken.

Unwägbarkeiten eines Umbruchs

Wie einst die Dissidenten im kommunistischen Osteuropa bezeichnet Chen das chinesische System als so morsch, dass es früher oder später in sich zusammenfallen müsse. Zwar hätten die Machthaber aus Gorbatschews Schicksal gelernt, dass eine politische Lockerung der Verhältnisse ausser Kontrolle geraten könne. Dennoch sei es nur noch eine Frage der Zeit, bis das kommunistische Gebäude einstürze. Ein weiteres Risiko stelle die Taiwan-Frage dar. Diese könne erst friedlich gelöst werden, wenn Festland-China demokratisch sei. Denn Taiwan werde eine Diktatur niemals akzeptieren.

Ein Umbruch der Verhältnisse in China allerdings würde enorme politische und wirtschaftliche Instabilität bedeuten, gerade auch für Australien, dessen Wirtschaft von der Zugkraft des «China-Expresses» derzeit profitiert. Die Frage stellt sich damit, ob der Westen eine Demokratisierung überhaupt begrüssen würde, sollte sie zum Preis eines unkontrollierten Zusammenbruchs des kommunistischen Systems erfolgen.

17. August 2005, Neue Zürcher Zeitung

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