Die Welt, 25.07.2002: China diskutiert seine Umweltsünden

Peking – Quälender Hustenreiz riss den pensionierten Beamten Yang und seine siebenköpfige Familie aus ihrem Schlaf. Das Zimmer war voller gelblicher, beißender Rauchschwaden. Yangs Augen tränten. „Ich wusste, dass etwas mit der Phosphorfabrik passiert war. Der Rauch war giftig!“ Auch die Nachbarn in der 1997 für Umsiedler des Ertan-Wasserkraftwerks erbauten Gemeinde Yanbian in Chinas südwestlicher Provinz Sichuan drängten sich mit nassen Tüchern vor dem Mund aus ihren Häusern. Die meisten der 15 000 Bewohner flohen in Panik talabwärts entlang des Yalong-Flusses. Über ihnen schwebte eine 30 Kilometer lange gelbliche Giftwolke. Die Sicht auf den verstopften Straßen reichte keine zehn Meter.

Profiteure gab es schnell: Minibusse verlangten den sechsfachen Preis, Gazemasken kosteten statt ein gleich fünf Yuan. Die Schule musste ihre Abschlussprüfung abbrechen und 680 Schüler nach Hause schicken, als die Kinder über Kopfschmerzen, Übelkeit und Nasenbluten klagten. Die Giftkonzentration in der Luft erreichte das 13,5fache normaler Werte oder das 4,28fache des gesundheitsgefährlichen Limits für Phosphor. In der 25 Kilometer entfernten Stahlstadt Panzhihua, wohin die Wolke zog, zählte das Krankenhaus am Abend 653 Patienten. Ein Beamter der Provinz verlangte, die Zahlen nach unten zu schönen. „Schon bei 80 Vergiftungsfällen müssen wir doch schon eine Untersuchung einleiten.“

Der 32-jährige Pekinger Journalist Tang Jianguang hat diesen Unfall, der am 2. Juli zur Massenflucht führte, die Stadt Panzhihua mit 1,1 Millionen Menschen in Panik versetzte und das Trinkwasser verseuchte, vor Ort gründlich recherchiert. Mit seiner dramatischen Reportage, echtem Enthüllungsjournalismus, machte das Pekinger Magazin „Xinwen Zhoukan“ (Nachrichtenwoche) als Titelgeschichte auf. Die erst vor zwei Jahren von der halboffiziellen Nachrichtenagentur Zhongguo Xinwenshe gegründete Wochenzeitschrift mit einer Auflage von 50 000 Exemplaren steht für einen neuen Trend unter Chinas Medien. Rund zwei Dutzend Zeitschriften und Zeitungen loten die Grenzen des Erlaubten immer weiter aus. Einstige Tabus für Umwelt-, Sozial- und Wirtschaftsthemen fallen. Vergangene Woche trauten sich chinesische Zeitschriften zum ersten Mal, anhand eines Fehlurteils eine öffentliche Debatte über die Todesstrafe anzustoßen.

Im Juli 2001 enthüllten Redakteure des Parteiorgans „Volkszeitung“ die Hintergründe eines Minenunglücks in Guangxi, bei dem 81 Menschen im Stollen ertranken, deren Tod vertuscht werden sollte. Sie ließen sich von Drohungen von Minenbetreibern, korrupten Parteifunktionären und Mafiabanden nicht abschrecken, die die Zinnvorkommen in frühkapitalistischer Weise abbauen ließen. 63 Behälter mit hochradioaktivem Kobalt 60, dessen Freisetzung Millionen Menschen getötet und Strahlenschäden wie nach der Explosion einer Atombombe ausgelöst hätte, konnten rechtzeitig sichergestellt werden, bevor sie in einer Metallschmelze recycelt wurden. Diese Beinahekatastrophe wurde in Peking bekannt, nachdem am Dienstag die vier Kobaltdiebe vom Volksgericht in der Stahlstadt Panzhihua zu Haftstrafen zwischen sechs Monaten und elf Jahren verurteilt worden waren.

China bezahlt seine rasante Entwicklung mit den meisten Menschenleben der Welt: Im ersten Halbjahr 2002 kamen bei Arbeitsunfällen 53 302 Menschen ums Leben. Der Umweltunfall in der Fabrik in Yanbian forderte nur einen Toten, aber er ist ein Lehrbeispiel für die verheerenden Folgen rasanter und chaotischer Industrialisierung. Wie Journalist Tang herausfand, geht die Gründung der inzwischen geschlossenen Phosphorfabrik auf den Bau des 14 Kilometer entfernten Wasserkraftwerkes Ertan zurück. Das riesige Wasserkraftwerk stellte sich als Fehlplanung heraus, als es nicht in das Landesstromnetz integriert werden konnte und so nur zu einem Drittel seiner Kapazitäten genutzt wurde. Die Investitionsgesellschaft der Provinz Sichuan, der 45 Prozent der Anteile am Ertan-Kraftwerk gehören, ließ daraufhin im März 1998 für 320 Millionen Yuan (40 Millionen Euro) eine riesige Phosphorfabrik in Yanbian als Abnehmer für große Strommengen bauen.

Die profitable Produktion erzielte 2001 Exporterlöse in Höhe von 22 Millionen Euro. Die Investoren kümmerten sich nicht um Proteste der umgesiedelten Bewohner. Tang berichtet über ihre Versuche, sich in Bürgerinitiativen gegen die gefährliche Zeitbombe zu organisieren, Unterschriftenkampagnen zu starten und zu klagen. Die Antwort der Behörden: Die Fabrik stelle kein Umweltrisiko dar. Bis am 2. Juli alle eines Besseren belehrt wurden.

Alle Artikel, Grafiken und Inhalte, die auf Yuanming.de veröffentlicht werden, sind urheberrechtlich geschützt. Deren nicht-kommerzielle Verwendung ist erlaubt, wenn auf den Titel sowie den Link zum Originalartikel verwiesen wird.

Das Neueste

Archiv