Zürcher Oberländer (20.11.02): Wirtschaftswachstum ohne politische Reformen

Die chinesischen Kommunisten haben an ihrem Parteikongress zwar die oberste Führung erneuert, eine Reformpolitik ist aber nicht zu erwarten

Beobachter aus der ganzen Welt verfolgten letzte Woche den grossen Kongress der kommunistischen Partei und hofften, einige Trends für Chinas politischen Kurs herauszulesen. Neue Männer sind nun an der Macht – das heisst aber nicht, dass auch eine neue Politik kommt.

Marco Lier

Die Grossmacht China war für Beobachter aus dem Westen schon immer geheimnisvoll. Das gilt auch heute – besonders für die internen Machtstrukturen. Für Aussenstehende sind sie kaum zu durchschauen, und über das Geflecht der internen Hierarchien und Abhängigkeiten in Staat, Partei und Militär dringen kaum Nachrichten nach aussen. Umso mehr schauten alle Interessierten auf die Resultate des 16. Kongresses der Kommunistischen Partei Chinas, der nur alle fünf Jahre stattfindet und der einen Generationenwechsel in der politischen Führung versprach. Der Parteikongress ist inzwischen über die Bühne gegangen, die neuen starken Männer bestimmt, doch die Beobachter sind so schlau wie zuvor.

Ideologie ist geduldig

Kommunisten sind die chinesischen Machthaber zwar schon lange nicht mehr. Trotzdem halten sie an der Ideologie ihrer Partei fest, um ihre Macht zu legitimieren. Dass die reine Lehre damit immer mehr verändert, umgebogen und neu interpretiert wird, nehmen sie pragmatisch und grosszügig in Kauf.

So traten dank dem neusten Parteikongress neben die Lehren der alten «Heiligen» Mao Tsetung und Deng Xiaoping neu auch das Gedankengebäude der «drei Vertretungen» des bisherigen Machthabers Jiang Zemin. Damit ist letztlich gemeint, dass auch die «fortschrittlichen Produktivkräfte» (kommunistischer Jargon für Kapitalisten oder Unternehmer) ihren Platz in der Partei erhalten sollten. Die Partei muss neuerdings auch den allmählich entstehenden Mittelstand repräsentieren, um sich ideologisch abzusichern. Denn ausserhalb des Machtapparats der Partei darf nichts und niemand stehen; das zeigt auch der verkrampfte Kampf der Partei gegen die Massenbewegung Falun Gong. Auch wenn die neusten Ergänzungen zu den alten Lehren des Kommunismus passen wie die Faust aufs Auge, werden sie irgendwie in die offizielle Sprachregelung übernommen und ins grosse Gedankengebäude der «sozialistischen Marktwirtschaft» integriert. Die Partei ist offensichtlich zu einem Gebilde verkommen, das vor allem der Machterhaltung der bisher herrschenden Cliquen dient.

Grosse Probleme warten schon

Die neue Führungsmannschaft – die «vierte Generation» nach Mao, Deng und Jiang – ist zwar nominell eine ganz neue Gruppe von Parteikadern, alle um die 60 Jahre alt. Ganz zurückziehen wird sich die alte Garde aber nicht, und auch von den Neuen sind keine fundamentalen Neuerungen zu erwarten. Und der neu bestimmte Generalsekretär der Partei, Hu Jintao, zeigt keine Anstalten, ein chinesischer Gorbatschow zu werden.

Genau solche grundlegenden Reformen hätte China aber dringend nötig. Die wirtschaftliche und soziale Zukunft des Riesenreichs sieht nämlich gar nicht rosig aus, riesige Probleme warten auf die neuen Steuermänner. Die Banken des Landes stecken in einer tiefen Krise, die Arbeitslosigkeit auf dem Land und in den Städten wächst (sie liegt offiziell bei 7 Prozent), die Staatsschulden ebenso. Die Parteiführer selber geben an, dass ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum von mindestens 7 Prozent nötig sei, um die schlimmsten Probleme zu meistern, geschweige denn die «Wohlstandsgesellschaft» zu errichten, die sie sich bis 2020 zu errichten vorgenommen haben.

Rechtsstaat ohne Bürgerrechte?

Um dieses Wachstum über längere Zeit zu erzielen, wären aber wichtige Reformen nötig. Das dringendste Problem stellt wohl der Kampf gegen Korruption und Willkür dar.
Solange es keinen einigermassen stabilen Rechtsstaat
gibt, werden sich die ausländischen Investoren zweimal überlegen, wie viel Geld sie nach China tragen. Zu einem Rechtsstaat gehören selbstverständlich auch Bürgerrechte, und davon wollen die Machthaber nach wie vor überhaupt nichts wissen.

Um sozialen Unruhen und Verwerfungen vorzubeugen, betonen die Parteioberen immer wieder, wie wichtig für sie die Stabilität im Land ist. Ob aber die Arbeitslosigkeit auf die Dauer damit bekämpft werden kann, indem der Staat veraltete Betriebe und Wirtschaftssektoren finanziell über Wasser hält, ist sehr fraglich. Die Staatsschulden Chinas wachsen ins Unermessliche, und so wird der wirtschaftliche Kollaps sicher nicht vermieden.

Wenn die Partei sich weiter auf diese Art durchmogelt, wird sie letztlich am Widerspruch scheitern, dass grosses Wirtschaftswachstum nicht ohne politische und gesellschaftliche Reformen möglich ist. Die politische Diktatur wird die wirtschaftliche Entwicklung behindern. Die Reformen werden aber auch das absolute Machtmonopol der Partei in Frage stellen. Und das kann der Mehrheit der Chinesen – und letztlich auch der ganzen Welt – nur nützen.

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