Die Dinge sind oft nicht so, wie sie scheinen

Zwei Cousins im gleichen Haus, mit unterschiedlichem Schicksal. Es scheint offensichtlich, aus dem einen wird nichts werden. Doch welche Kriterien sind für ein erfolgreiches Leben tatsächlich ausschlaggebend?

Ausschnitt aus dem Bild „Children playing in the palace garden“ eines unbekannten chinesischen Künstlers, datiert zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert. Metropolitan Museum N.Y. Purchase, The Dillon Fund Gift, 1987

Zwei Brüder eröffneten im Erwachsenenalter jeweils ein Fachgeschäft in ihrer Heimatstadt. Der eine verkaufte Stoffe und Getreide und konnte nachhaltig wirtschaften. Der andere Bruder hingegen verlor sein Geschäft, da er auf Betrüger hereingefallen war und sich zu unlauteren Geschäftspraktiken hatte hinreißen lassen. Dieser Misserfolg und die Konsequenzen davon waren mitursächlich dafür, dass sich dieser Bruder und seine Frau das Leben nahmen und ihren kleinen Sohn alleine zurückließen.

So kam es, dass der erfolgreiche Bruder seinen Neffen mit nach Hause nahm. Leider war seine Ehefrau schon vor der Tragödie, die sich ereignet hatte, negativ gegenüber seinem Bruder und dessen Ehefrau eingestellt gewesen. Sie hatte die beiden für ihr Versagen und die darauffolgende Armut verachtet. Sie befürchtete nun, dass der Junge ihr Unglück bringen könnte.

Um sicherzustellen, dass er möglichst keinen Schaden anrichten konnte, durfte der Junge nicht im Haus leben. Er musste im Heustadel übernachten. Sie ließ ihn hart arbeiten und gab ihm bewusst zu wenig zu essen. Ihr eigener Sohn im gleichen Alter, verspottete seinen Cousin und nannte ihn „kleiner Bettler“.

Gegenüber Freunden und Verwandten pries die Frau ihren Sohn, der einmal ein hoher Beamter und fähiger Gelehrter sein würde. Ihrem Neffen jedoch brachte sie Verachtung entgegen und sagte oft, dass aus ihm wohl nichts werden würde. Sein Schicksal sei es, ein Bettler zu sein.

Der Junge litt viele Jahre still und leise unter der schlechten Behandlung seiner Tante. Nachts weinte er oft und trauerte um seine Eltern, die ihn trotz allem sehr geliebt hatten. Er war stets fleißig, widersprach seiner Tante nicht, denn er wollte seinem Onkel keine Schwierigkeiten bereiten.

Sein Cousin im Gegenzug verhielt sich ganz anders: Er wurde von seiner ehrgeizigen Mutter sehr verwöhnt. Er war arrogant, herablassend und niemand war gut genug in seinen Augen. Oft rief er seinem Cousin zu:„ Bleib weg von mir, du kleiner Bettler, nicht dass du mir Unglück über meine Familie bringst.“

Ausschnitt aus dem Bild „Children playing in the palace garden“ eines unbekannten chinesischen Künstlers, datiert zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert. Metropolitan Museum N.Y. Purchase, The Dillon Fund Gift, 1987

Gelehrter erkennt Potenzial des Waisenkindes

Der kleine Junge durfte die Schule nicht besuchen. Da er täglich viele Arbeiten zu erledigen hatte, stand er früh auf, um danach unter dem Fenster zu sitzen und dem Unterricht lauschen zu können.

Der alte Gelehrte bedauerte den Jungen und schenkte ihm Bücher. Er erkannte, dass der Junge eine schnelle Auffassungsgabe hatte und intelligent war. Er beschloss, seine Verwandten zu fragen, ob er den Jungen zu sich nehmen könnte. Onkel und Tante waren dem Gelehrten dankbar für das Angebot und sofort damit einverstanden.

Der Gelehrte verweilte noch eine kurze Zeit im Ort, um die Kinder zu unterrichten. Einige Zeit später kehrte er zusammen mit dem Waisenjungen in seine Heimatregion zurück. Von da an stand der Junge unter der Fürsorge des Gelehrten und erhielt eine solide und breite Grundausbildung. Zehn Jahre später war aus dem Waisenkind ein stattlicher junger Mann geworden. Es gelang ihm, das Staatsexamen mit Bravour zu bestehen. Im Laufe seiner Karriere gelangte er zu höchsten akademischen Ehren.

Es geschah nun, dass er als Richter in den Ort gerufen wurde, wo er einst mit seinem Onkel, Tante und Cousin gelebt hatte. Während der letzten Jahre hatte dieser das Geld seiner Eltern ausgegeben. Er hatte es nicht für nötig befunden, in eine Ausbildung zu investieren. Das Geld seiner Eltern verprasste er in wenigen Jahren und verkaufte alles, was sie ihm hinterlassen hatten. Er schob seine Eltern sogar in einen Tempel ab, um das Haus seiner Vorfahren verkaufen zu können. Als er nichts mehr hatte, begann er zu stehlen. Die Polizei erwischte ihn irgendwann und es wurde Anklage gegen ihn erhoben.

Am Tage der Gerichtsverhandlung erkannte er den Richter wieder, der vor ihm stand. Es war der Junge, den er einst als „kleinen Bettler“ beschimpft hatte. Der ehemals reiche und arrogante Cousin stand nun als Krimineller vor dem einst armen Waisenkind, der das Urteil über sein Vergehen fällte. Er war es, der statt seiner der von der Mutter so gewünschte Vorzeige-Gelehrte geworden war.

Quelle: Die Geschichte „Der Bettler wird Richter“ aus dem Buch Treasured Tales of China Vol. 3, Seite 59, Classical Poets Publishing, Mount Hope, New York, 2020

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