Die Prüfung

Ein Diplom zu haben, ist gut. Ein Diplom und ein gutes Herz zu haben, ist besser.

Einst begaben sich zwei Burschen aus der Provinz in die Hauptstadt, um ihr Examen abzulegen. Ihre Namen waren Li Jianzhong und Qian Weicheng. Auf ihrer Reise zu Pferd regnete es unablässig. Sie beschlossen eine Unterkunft zu nehmen und darauf zu warten, dass der Regen aufhörte.

Als sie bei einer Herberge Unterschlupf gefunden hatten, merkten sie schon bald, wie müde sie von der Reise waren. Nach einem einfachen Abendbrot legten sie sich schlafen.

Während der Nacht träumte Weicheng von der Prüfung. Zuerst sah er die Stadt vor sich wie durch Nebel hindurch. Dann sah er den Ort, wo die Prüfungen abgenommen wurden. Später dann die Mauer, an der die Rangliste angebracht werden würde.

Alle Absolventen standen davor, um zu schauen, welchen Rang sie erhalten hatten. Auch Weicheng drängelte sich vor die Liste und sah, dass er den 30. Platz bekommen würde. Als er nach dem Namen des Weggefährten suchte, fand er ihn auf dem 1. Platz. Er freute sich im Traum über die bestandene Prüfung und rief laut: „Ich habe es geschafft!“ worauf er aufwachte.

„Was hast du geschafft?“, wollte Jianzhong von ihm wissen. Weicheng rieb sich die Augen und sagte: „Ich träumte du würdest als Bester die Prüfung bestehen und ich erhielt den 30. Rang.“ Als Jianzhong das hörte, konnte er nicht mehr einschlafen.

Weitere drei Tage vergingen und das Wetter änderte sich endlich. Die jungen Männer sattelten ihre Pferde und setzten ihre Reise fort. Ihr Weg führte sie über eine Brücke, dann zu einem schmalen Fluss nahe einem Wald. Plötzlich hörte Weicheng ein seltsames Geräusch. Er blieb stehen und horchte. Zu Jianzhong gewandt sagte er: „Da braucht jemand unsere Hilfe, da weint jemand. Lass uns nachschauen gehen!“

Doch Jianzhong warf Weichang nur einen abschätzigen Blick zu und trieb sein Pferd zu einem schnelleren Lauf an in Richtung Stadt. Er ließ seinen Weggefährten einfach stehen. Weicheng ritt also alleine auf den Waldrand zu und stieg von seinem Pferd ab. Er fand eine verzweifelte Frau mit ihrer kleinen Tochter, die sich an ihrem Bein festhielt und bitterlich weinte. An einem Ast des Baumes hing ein Seil.

Weicheng fragte: „Was ist mit euch passiert? Warum seid ihr hier draußen im Wald?“ Die Frau erzählte, dass ihr Mann gestorben sei, und sie keine Verwandten und kein Geld mehr habe, um sich und ihre kleine Tochter zu ernähren. Sie wollte sich das Leben nehmen.

Weichang konnte der Frau gut nachfühlen und wollte nicht, dass die Verzweiflung ihrem Leben ein Ende setzen würde. Er sprach mit ihr und gab ihr die Hälfte seines Geldes, das er in einem Beutel bei sich trug: 10 Silbermünzen*1 (Tael). Danach beeilte er sich, ebenfalls in die Hauptstadt zu kommen.

Zwei Wochen später wurden die Resultate der Prüfungen bekannt gegeben. Als Weicheng sich zu besagter Wand mit den angeschlagenen Listen begab, um nachzuschauen, auf welchem Platz er gelandet war, blieb ihm der Mund offen stehen: Sein Name war nun auf dem ersten Rang und der von Jianzhong an 30. Stelle. Wie in seinem Traum, nur verkehrt herum. Nachdem Weicheng der Frau im Wald geholfen hatte, hatte sich sein Schicksal geändert. Nicht umsonst heisst es auch in unserem Kulturkreis: „Wer anderen Gutes tut, dem geht es selber gut; wer anderen hilft, dem wird geholfen.“

*1 Es lässt sich nicht mehr genau berechnen, aber so ca. 1 Silbermünze in der mittleren Phase der Qing-Dynastie wäre heute ca. 35 Dollar. Damit hätte man damals ca. 30 kg Reis oder 300 Eier kaufen können, laut einer Quelle. Ein einfacher Student konnte von ca. 3 Silbermünzen im Monat leben, ein Beamter verdiente ca. 60 Silbermünzen. Am teuersten damals waren Lebensmittel, Kleider und bessere Immobilien, der Rest war eher günstig zu erwerben.

Quelle für diese Geschichte: „A Kind Heart Changes Test Scores“, Seite 72 aus dem Buch „Treasured Tales of China“ Vol. 1, 2018 Middle Kingdom Publishing.
Zitat: «Wer anderen Gutes tut, dem geht es selber gut; wer anderen hilft, dem wird geholfen» stammt aus Sprüche 11,25.

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