Stern, 05.05.03: Reform oder Revolution – wie SARS China verändert

Über den Autor
Matthias Schepp, 39, arbeitet seit mehr als einem Jahrzehnt für den Stern. Von 1992 bis 1998 berichtete er aus Moskau, 1999 eröffnete er das Büro des Stern in der chinesischen Hauptstadt. Mit seiner Frau und den beiden Kindern Moritz (3) und Max (1) lebt er im Zentrum Pekings. Schepp, der in Mainz und Dijion Geschichte studierte, sagt von sich selbst: „Mich interessiert das Verhalten von Menschen in Krisen- und Umbruchzeiten. Das Ende des Kommunismus ist mein großes Thema. In Russland war es gleichsam ein Sekundentod, in Peking beobachte ich das langsame Sterben der Ideen von Marx, Lenin und Mao.“

1. Die internationale Entzauberung des Wunderlandes China

Die Volksrepublik hatte in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit durchschnittlichen Wachstumsraten von mehr als zehn Prozent geglänzt. Bundeskanzler und Spitzenmanager kamen während ihrer Drei-Tage-Blitzbesuche aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie nahmen die futuristische Skyline der Boom-Stadt Shanghai für den Rest des Landes. Sie übersahen, dass die 900 Millionen zählende Landbevölkerung in großer Armut lebt und China immer noch ein Entwicklungsland ist. Allzu gerne verdrängten sie, dass ihre ach-so-weltgewandten Gesprächspartner eine Diktatur repräsentieren.

Wer es trotzdem noch wagte, darauf hinzuweisen, dass die Volksrepublik politisch immer noch nach einem streng marxistisch-leninistischen System regiert wird, wurde ausgelacht. Ganz so als hätte sich das allgewaltige Politbüro, das über den selbst erlassenen Gesetzen steht und von niemandem wirklich kontrolliert wird, in Luft aufgelöst.

Vergessen schon waren die Menschenrechtsverletzungen
Diejenigen unter den deutschen Peking-Korrespondenten, die auf Pressekonferenzen weiter tapfer nach den Menschenrechten fragten, ernteten mitleidiges Lächeln, mitunter sogar von Vertretern der Grünen-Partei.

Verschwundene Dissidenten, festgenommene Falun Gong Anhänger, die tausendfach verhängte Todesstrafe, der Handel mit den Organen der Hingerichteten, die mitunter brutalen Folgen der Ein-Kind-Politik, Religions- und Pressefreiheit -in den Augen der China-Fans waren das die Themen von gestern.

Um des wirtschaftlichen Fortschritts willen waren sie bereit, jeden Preis zu zahlen. Wer argumentierte, dass dauerhaftes Wachstum nicht ohne Rechtsstaat und größere Freiheiten möglich sei, galt als altmodisch.

Hunderte SARS-Tote und Tausende SARS-Ansteckungen in inzwischen mehr als dreißig Ländern später aber klingen die gebetsmühlenartig vorgetragenen und im Westen gerne geglaubten Stabilitäts-Beschwörungen der chinesischen Regierung hohler denn je. Um das 1,3 Milliarden-Menschen-Reich nicht ins Chaos zu stürzen, müsse man eben einstweilen Diktatur, Menschenrechtsverletzungen und Pressezensur in Kauf nehmen, erklären chinesische Politiker und Diplomaten bei jeder Gelegenheit. Ihre Jünger unter den westlichen Spitzenmanagern und Botschaftsvertretern müssen nun einräumen, dass im Falle von SARS nicht Wahrheit und Freiheit die Stabilität gefährden, sondern Lüge und mangelnde Information.

Das englische Wochenmagazin „Economist“ brachte Ursache und Folge der Seuche genial auf den Punkt, als es in der vergangenen Woche mit einem provozierenden Titelblatt erschien: Es zeigte den Revolutionär und Gründer der Volksrepublik Mao Zedong mit einer Gesichtsmaske.

2. Die Entzauberung der Kommunistischen Partei bei den eigenen Landsleuten

Womöglich sind die innenpolitischen Folgen von SARS nicht weniger folgenschwer als die medizinischen. Die informierten Chinesen in den Städten wissen genau, dass sie SARS der Pekinger Regierung verdankt, die seit dem ersten bekannten Fall in der Universitätsstadt Foshan in der südchinesischen Provinz Kanton vier Monate lang die Welt und das eigene Volk belog. Als der internationale Druck zu groß und die Lüge zu offensichtlich wurde, feuerten die Herrscher den Pekinger Bürgermeister sowie den Gesundheitsminister, der kurz zuvor noch damit angegeben hatte, alles unter Kontrolle zu haben. Dies war nicht mehr als eine geschickt gezündete Nebelkerze, ein Bauernopfer, das von den wahrhaft Schuldigen ablenken sollte.

Denn in China ist unvorstellbar, dass ein Minister und ein Pekinger Bürgermeister bei ihrem Versuch SARS kleinzureden, ohne Wissen der Staatsführung handelten.

Die politisch Verantwortlichen für die Misere: Jiang Zemin, Hu Jintao, Wen Jiabao
Die politisch Verantwortlichen für SARS sind also: der ehemalige Präsident Jiang Zemin, der als Vorsitzender der Militärkommission immer noch als starker Mann der Volksrepublik gilt, Jiang Zemins Nachfolger Präsident und Parteichef Hu Jintao, sowie der neue Premierminister Wen Jiabao.

Deshalb kann ich es nicht anders als riskant finden, wenn nun in Peking die ersten Spruchbänder verkünden: „SARS wird von der Kommunistischen Partei besiegt werden.“ Ich bin kein Kommunistenhasser, aber im Falle von SARS bevorzuge ich Ärzte und Wissenschaftler gegenüber Politfunktionären.

SARS hat schon 22 von 36 Provinzen erreicht
Gelingt es Hu Jintao und Wen Jiabao nicht, SARS unter Kontrolle zu bringen, werden viele Chinesen in ihnen die Schuldigen für die Hunderten womöglich Tausenden Tote sehen. Schon hält die angesehene französische Tageszeitung Le Figaro eine Revolution für möglich, falls sich SARS im bitterarmen Hinterland verbreitet. Genau dies wird mit jedem Tag wahrscheinlicher. Von Peking und Kanton aus hat sich SARS bereits in weitere 22 der 36 Provinzen Chinas ausgebreitet. In einem Dorf zwischen Peking und der Hafenstadt Tianjin brannte ein Mob von mehreren Tausend kürzlich die örtliche Schule nieder. Es war bekannt geworden, dass dorthin SARS-Kranke aus den Städten ausgelagert werden sollten.

„Chinas Tschernobyl“

Im Einklang mit dem einen oder anderen ausländischen Kommentator hoffen die Optimisten unter den Pekinger Intellektuellen auf demokratische und rechtsstaatliche Reformen. Sie sehen in der SARS-Seuche „Chinas Tschernobyl“. Nach dem Reaktorunglück nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiew hatte der neue Sowjetführer Michail Gorbatschow damals verstärkt auf Glasnost, Offenheit, und Zusammenarbeit mit dem Westen gesetzt.

Natürlich hoffe ich, dass die Optimisten recht behalten. Natürlich wünsche ich mir, dass SARS in China zu sinnvollen Reformen führt. Natürlich denke ich mit Schrecken an die Folgen eines Volksaufstandes. Zur Zeit kann keiner mit Sicherheit sagen, wie es im Reich der Mitte weitergeht. Schon jetzt aber steht fest, dass SARS die Volksrepublik stärker verändern wird als der blutig niedergeschlagene Studentenaufstand von 1989 oder das Auftauchen der Falun-Gong-[Bewegung] Ende der Neunzigerjahre.

Quelle:
http://www.stern.de/wissenschaft/medizin/index.html?id=507438&p=2&nv=ct_cb&eid=506201

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