Die Welt am Sonntag (D): Gut gebrüllt, Tiger

Was in diesem Sommer jeden zwölften der sieben Millionen Einwohner des asiatischen Wirtschaftswunderlandes Hongkong zur ungewohnten Demonstration auf die Straße trieb, war nicht allein die Sorge um den Erhalt der Bürgerrechte. Hongkongs Bürger, jahrzehntelang verwöhnt von stetig wachsendem Wohlstand, treibt die Sorge um, dass der zunehmende Einfluss Chinas die Geschäfte ihres bislang so erfolgreichen Gemeinwesens auf Dauer ruiniert.

Die Lage im Fernen Osten ist in der Tat ernst. Das Wirtschaftswachstum wird in diesem Jahr den Schätzungen zufolge noch zwei Prozent erreichen können, weit entfernt von den sechs oder sieben Prozent in der Vergangenheit. Für die zweite Jahreshälfte rechnen Hongkonger Experten mit einem Zuwachs beim Bruttoinlandsprodukt von 1,1 Prozent.

Das für Hongkongs Verhältnisse niedrige Wirtschaftswachstum hat ernste Folgen für Bürger und Verwaltung. Die Arbeitslosigkeit nähert sich der bis dato unbekannten Rate von zehn Prozent. Die Grundstückspreise, seit jeher Basis des finanziellen Aufstiegs, sind seit ihrem Gipfel 1997 um über 60 Prozent gefallen – ein Desaster nicht nur für die Konsumfreude der Einwohner, sondern auch eine Katastrophe für die Staatseinnahmen der chinesischen Sonderverwaltungszone, die Hongkong seit dem Abschied der Briten 1997 ist. Die Asiatische Entwicklungsbank veranschlagt das Haushaltsdefizit in diesem Jahr auf etwa vier Prozent, auch fünf Prozent sind nach anderen Schätzungen möglich. Um das Loch zu füllen, will Regierungschef Tung Chee-hwa die Einkommensteuer von 15 auf 16 Prozent erhöhen und die Steuern für Unternehmen von 16 auf 17,5 Prozent.

Wie lange er noch im Amt ist, wissen allerdings höchstens die Götter im fernen Peking. Denn die demonstrierenden Massen waren nur das nach außen sichtbare Zeichen der schwindenden Autorität des Verwaltungschefs. Der Großreeder hatte bei der Sars-Epidemie in diesem Frühling in Hongkong keine gute Figur gemacht. Anders als das rigorose Singapur unternahm seine Regierung zunächst wochenlang eigentlich nichts gegen das grassierende Lungenfieber. Als Tung nach der vorläufigen Entwarnung und 260 Todesfällen als Erstes daranging, so genannte Sicherheitsgesetze („Artikel 23“) zu beschließen, kippte die Stimmung in der Bevölkerung von Resignation in Opposition und Zorn.

Artikel 23 ist nach dem von England und China 1992 beschlossenen Grundgesetz Hongkongs („basic law“) notwendig, um in Sachen Staatsschutz und Subversion eine gesetzliche Grundlage zu schaffen. Doch Tung und seine mittlerweile abgelöste Sicherheitsministerin Regina Ip schossen in vermeintlich vorbeugendem Gehorsam gegenüber Peking weit übers Ziel hinaus. Nahezu jede Presserecherche über Regierungsaktivitäten – zum Beispiel hinsichtlich Sars – wäre strafbar geworden. Und natürlich auch die Zugehörigkeit zur Falun- Gong-Gemeinschaft, deren Mitglieder in der Volksrepublik seit Jahren gnadenlos verfolgt werden. Am Ende des turbulenten Juli 2003 allerdings sind die Artikel-23-Pläne erst einmal zurückgezogen, und Ordnung ist zurückgekehrt zwischen den glassilbernen Wolkenkrater der Bank of China und den spätviktorianischen Ex-Amtssitz des britischen Gouverneurs. Vorerst.

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Artikel erschienen am 3. Aug 2003

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