Deutschland: Auszüge der Rede von Bundespräsident Johannes Rau an der Universität Nanjing in China

Erstens: Die Pflege fester wirtschaftlicher Beziehungen und das Eintreten für Menschenrechte schließen sich nicht gegenseitig aus. Beides hat seinen eigenen Wert und gehört zusammen. Und gerade die jüngere Geschichte zeigt, dass die weltweite Verwirklichung der Menschenrechte am besten auf dem Weg des Dialogs gelingt.

China hat erkannt, dass gerechter Wohlstand für breite Bevölkerungskreise ohne unternehmerische Initiative nicht gelingen kann. Das setzt wirtschaftliche Freiheitsrechte voraus, und die werden das Verständnis für die Bedeutung persönlicher und politischer Freiheitsrechte fördern.

Zweitens: Die Charta der Vereinten Nationen verpflichtet die Mitgliedsstaaten in Artikel 1 dazu, „eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen.“ Es gibt außerdem mehrere internationale Menschenrechtskataloge. Kritik am Stand der Menschenrechte in anderen Staaten ist daher keine Einmischung in deren innere Angelegenheiten. Sie verletzt ihre Souveränität nicht.

Drittens: Man darf das Eintreten für Menschenrechte nicht dahingehend missverstehen, dass es sich um ein spezifisch „westliches“ Anliegen handele, mit dem „westliches“ Gedankengut der übrigen Welt aufgedrängt werden soll.

Dieser Eindruck kann allerdings entstehen, wenn Menschenrechte und ihre Konkretisierung mit der westlichen, stark individualistisch geprägten Gesellschaftsform mehr oder minder gleichgesetzt werden.

Das wäre aber eine falsche Perspektive. Die Menschenrechtsidee ist nämlich verschiedener Ausprägungen fähig, auch einer, die sich mehr auf Gemeinschaftsbindung und Gemeinschaftspflichten bezieht, wie das asiatischer und speziell chinesischer Kultur entsprechen mag, geprägt etwa von der konfuzianischen Pflichtenethik.

In den Menschenrechtserklärungen, besonders der französischen von 1789, auch der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, liegen ja zwei Schichten ineinander: Die erste bezieht sich auf die unmittelbare Rechtssphäre des Menschen als Person, die andere betrifft die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander. Diese letzte Schicht ist von einem bestimmten sozialen Ordnungsbild geprägt, das sich stark an einem Individuum orientiert, das sich – frei von sozialen Einbindungen – selbstbezogen entfalten können soll.

Das ist eine mögliche, aber nicht die allein mögliche Konkretisierung der Menschenrechtsidee. Die genuinen Rechte des Menschen als Person, die ihn als frei handelndes Subjekt anerkennen und seinen „aufrechten Gang“ ermöglichen, sie machen für uns das Unbedingte an Menschenrechten aus, sind auch in gesellschaftlichen Ordnungen zu verwirklichen, die stärker von Gemeinschaftspflichten geprägt sind.

Es gibt ja – über die Kulturkreise hinweg – eine gemeinsame Anschauung von dem, was einen Menschen ausmacht, und auch darüber, wie eine „gute Regierung“ mit den Menschen umgehen sollte, für die sie Verantwortung trägt. Ich verweise auf die Worte von Konfuzius, die ich eingangs zitiert habe. Diese Ethik der Humanität, die wir in den Texten der großen chinesischen Denker und Weisen finden, gibt mir die Zuversicht, dass China unsere Haltung auch als Erinnerung an eigene Traditionen versteht.

Schließlich darf man die unterschiedliche Entwicklung und Geschichte der Staaten nicht aus dem Auge verlieren: Manche Länder bekennen sich zwar zu Rechtsstaatlichkeit und Freiheitsrechten, tragen aber noch Altlasten früherer Gesellschaftssysteme, die abzuschütteln Zeit kostet. Hier sind Geduld und Unterstützung gefragt.

Bei allen Schwierigkeiten und bei allem Verständnis für die Geschichte und Tradition eines Landes bleibt aber unsere unerschütterliche Überzeugung, dass die Menschenrechte universelle Bedeutung haben und weltweit gelten müssen.

Wenn es um die fundamentalen Rechte der Person geht, um Leben und Freiheit, um Schutz vor Folter, vor willkürlichem Freiheitsentzug und vor Diskriminierung, eben das, was die Voraussetzungen für den „aufrechten Gang“ sind, dann kann es in der Grundhaltung keine Kompromisse und kein Relativieren geben.

Und bei den politischen Freiheitsrechten steht das Ziel ebenfalls außer Frage; es geht nur darum, auf welchem Wege, in welchen Schritten und in welchem Tempo es erreicht werden kann.

X.

Meine Damen und Herren, ich möchte China darin bestärken, den eingeschlagenen Weg der Reformen für mehr Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Demokratie weiterzugehen und den Menschen über das Feld der Wirtschaft hinaus persönliche Entfaltung im Alltag zu garantieren. China wird damit nicht nur internationale Anerkennung finden, sondern auch im Bemühen um die Entwicklung des Landes und um das Vertrauen der Bevölkerung in die politische Führung erfolgreich sein.

Alle Artikel, Grafiken und Inhalte, die auf Yuanming.de veröffentlicht werden, sind urheberrechtlich geschützt. Deren nicht-kommerzielle Verwendung ist erlaubt, wenn auf den Titel sowie den Link zum Originalartikel verwiesen wird.

Das Neueste

Archiv