Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Ich habe die richtigen Worte zur richtigen Zeit gesprochen“

SCHANGHAI, 14. September. Monatelang hatte der Bundespräsident an dieser Rede gearbeitet: sich mit Fachleuten beraten, selbst geschrieben wie auch zuliefern lassen, abgewogen, gefeilt und geschliffen. „Ich habe mir mit dieser Rede viel Mühe gegeben“, sagt Johannes Rau am Tag, nachdem er sie gehalten hat, und klingt stolz. „Sie sollte nicht aggressiv sein, aber doch deutlich.“ Das war sie. An der Universität in Nanjing, Chinas früherer Hauptstadt, hatte Rau am Samstag die Einhaltung der Menschenrechte angemahnt. Kein Bundespräsident vor ihm – Karl Carstens und Roman Herzog waren in China gewesen – hatte das so unmißverständlich getan. Aus Rücksicht auf den stets wachsenden deutsch-chinesischen Handel mieden auch die Bundeskanzler Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder weitgehend das Thema Menschenrechte auf ihren China-Reisen. Rau sagte dagegen, „unter alten Freunden“, wie es China und Deutschland seien, müßten „unterschiedliche Auffassungen offen diskutiert werden“.

Vor knapp eintausend Studenten im Audimax der Elite-Universität begann er damit: „Wenn es um die fundamentalen Rechte der Person geht, um Leben und Freiheit, um Schutz vor Folter, vor willkürlichem Freiheitsentzug und vor Diskriminierung“, sagte Rau, dann könne es „in der Grundhaltung keine Kompromisse und kein Relativieren geben“. Ein großes Land wie China könne „nicht dauerhaft mit einer autoritären Politik gut regiert werden“. Jede Staatsmacht, die erfolgreich sein und den Menschen Wohlstand bringen wolle, sei auf die grundsätzliche Zustimmung der Menschen angewiesen. „Ohne das Vertrauen des Volkes kann kein Staat bestehen“, mahnte der Bundespräsident mit den Worten des chinesischen Dichters Konfuzius. „Darum treten wir Deutsche weltweit für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ein. Darum ermutigen und unterstützen wir alle Länder, diesen Weg zu gehen.“ Das waren neue, deutliche Worte.

Rau forderte, die in der chinesischen Verfassung nur abstrakt formulierten Freiheitsrechte durch Gesetze und Verordnungen zu konkretisieren, damit „Sicherheit für die Menschen“ erwachse und das Vertrauen in den Staat gestärkt werde. Rau kündigte an, daß Deutschland keine Ruhe geben werde, solange der Umgang mit Menschenrechten zu kritisieren sei. Die chinesische Regierung wisse, daß nach deutscher Ansicht die Themen Rechtsstaat und Menschenrechte „unmittelbar miteinander verbunden“ seien. „Deshalb werden wir immer wieder unsere Stimme erheben, wenn wir der Meinung sind, daß einzelne Personen oder Minderheiten nicht so behandelt werden, wie es unserem Verständnis von Rechtsstaat und Menschenrechten entspricht.“

In seiner Rede in Nanjing widersprach er der früher üblichen chinesischen Haltung, sich Ratschläge beim Thema Menschenrechte zu verbitten. Das Eintreten für Menschenrechte könne nicht als spezifisch westliches Anliegen mißverstanden werden: Bei allem Verständnis für unterschiedliche Traditionen „bleibt unsere Überzeugung, daß die Menschenrechte universelle Bedeutung haben und weltweit gelten müssen“. Der Ausbau wirtschaftlicher Beziehungen und das Eintreten für Menschenrechte „gehört zusammen“ für den Bundespräsidenten. Mit seiner Rede wolle er China darin bestärken, „den Menschen über das Feld der Wirtschaft hinaus persönliche Entfaltung im Alltag zu garantieren“. Rau gab sich zugleich davon überzeugt, China befinde sich bereits „auf dem Weg zu mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“.

Am Tag nach seiner Rede ergänzt er jedoch in Schanghai, daß die Länge dieses Weges noch nicht abzusehen sei. Fehlende Gewaltenteilung und die Herrschaft der Kommunistischen Partei werde es wohl auf unabsehbare Zeit weiterhin geben in China. „Da liegt noch eine lange Strecke vor uns“, sagte Rau am Sonntag in Schanghai. Mit seiner Rede von Nanjing, auf die er bislang keine Reaktion der chinesischen Führung erhalten habe, glaubt er allerdings, „den Reformprozeß in China ein Stückchen vorangebracht zu haben“.

Diese Wirkung halten andere für maßlos übertrieben. Mitglieder der Deutschen Handelskammer etwa, die Rau in Schanghai trifft. Sie geben sich besorgt: Man müsse vielmehr hoffen, daß die offenen Worte den deutsch-chinesischen Handelsbeziehungen nicht schadeten. Rau teilt diese Furcht nicht. „Der Bundespräsident tut alles, um der deutschen Wirtschaft zu helfen“, sagt er energisch über sich selbst. „Er ist allerdings nicht bereit, zu verschweigen, was angesprochen werden muß.“ Auch Bedenken, daß er als Bundespräsident politisch nicht weiter hätte gehen dürfen als die Bundeskanzler vor ihm, wischt Rau beiseite. Er wisse, daß Kohl und Schröder genauso dächten wie er. „Ich glaube, daß ich in dieser Rede angemessen vorgetragen habe, was die Elite aller Parteien in Deutschland denkt.“ Er habe „richtige Worte zur richtigen Zeit“ gesprochen, lobt sich Rau.

Er wird darin unterstützt von der Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Kerstin Müller (Grüne), die Rau auf seiner Reise als Vertreterin der Bundesregierung begleitet. Die Regierung könne nun „sehr konkret anknüpfen an das Gesagte und zukünftig China auf die Einhaltung der Menschenrechte und weitere Reformen drängen. Rau sagt, er hätte ebenso gehandelt, wenn das Ende seiner Amtszeit nicht so bald vor ihm läge. Und er verrät den ganz prsönlichen Zweck seiner Rede. „Gustav Heinemann hätte genauso geredet, Theodor Heuss auch.“ Rau will Eindruck als politischer Bundespräsident hinterlassen. So, wie es seinen zwei von ihm genannten Vorgängern – und Vorbildern – gelang.

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.09.2003, Nr. 214 / Seite 5

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