Stuttgarter Zeitung online: Pekings Tschernobyl

Weil die Regierung bei der Bekämpfung der neuen Lungenseuche versagt hat, fordert die chinesische Bevölkerung jetzt mehr Offenheit. Die Unzufriedenheit der Menschen steigt und wird artikuliert.

Die Straßen um das Volkskrankenhaus der Peking-Universität sind mit gelbem Plastikband abgesperrt. Polizisten mit weißen Schutzmasken vor dem Mund halten Passanten und Familienangehörige zurück. Seit Donnerstag sitzen in dem mehrstöckigen Gebäude vermutlich mehr als 2000 Angestellte und Patienten unter Quarantäne. Mehrere dutzend Ärzte, Schwestern und Patienten sollen sich in dem Gebäude mit SARS infiziert haben. Patienten mit anderen Krankheiten, die das Spital verlassen wollten, werden von Beamten daran gehindert. „Niemand darf rein oder raus“, sagt ein Arzt per Telefon.

Während Chinas Behörden im Kampf gegen das Schwere Akute Atemwegssyndrom (SARS) zu immer drastischeren Mitteln greifen, wächst in der Bevölkerung die Unzufriedenheit mit der Regierung. Nachdem sich die Kritik anfangs auf die beiden geschassten Spitzenpolitiker, Gesundheitsminister Zhang Wenkang und Pekings Bürgermeister Meng Xuenong, konzentrierte, häufen sich Stimmen mit grundsätzlichen Zweifeln am System. „Das chinesische Volk wurde nicht rechtzeitig gewarnt, weil einige Kader in ihrer üblichen Manier die Wahrheit verschwiegen haben“, heißt es in einem zensierten Internetforum der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua. Ein anderer Schreiber fügt hinzu: „Auch die einfachen Leute haben das Recht, die Wahrheit zu wissen. Sie sind fähig, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Sie brauchen die Regierung nicht, um zu entscheiden, was gut für sie ist.“ In privaten Gesprächen fällt die Kritik oft noch schärfer aus.

Wochenlang hatten Pekings Behörden die Gefahr von SARS heruntergespielt, den Staatsmedien einen Maulkorb erteilt und geschönte Statistiken über die Infektionszahlen veröffentlicht. „Es ist ein bitteres Gefühl, wenn man von seiner Regierung angelogen wird. Noch bitterer ist, wenn deshalb Menschen sterben“, sagte eine Pekinger Künstlerin. Manche Beobachter vergleichen die derzeitige Unzufriedenheit im Volk mit der Stimmung nach dem Tiananmenmassaker, als die KP-Führung mit Panzern gegen Studenten vorging. „Das ist das erste Mal seit 1989, dass die Führer und das System einer solchen weltweiten Überprüfung unterzogen werden und unter Druck gekommen sind“, sagt Ding Xueliang von der Hongkonger Akademie für Wissenschaft und Technologie.

Für die neue Führung um Staatspräsident Hu Jintao, seit wenigen Monaten im Amt, droht sich der Lungenvirus zu einer politischen Krise zu entwickeln. Das Volk sieht in SARS den ersten wichtigen Test für die neue Führung. Der 59-jährige Hu war mit der Aura eines Modernisierers angetreten. Die Regierung sollte effizienter und bürgernäher werden. Ministerpräsident Wen Jiabao verbrachte das chinesische Neujahr medienwirksam in einem Bergschacht mit Kohlearbeitern. Hu Jintao reiste zu den Bauern in die Provinzen. Beim Ausbruch von SARS war von der Bürgernähe nichts mehr zu spüren. Das Volk und die Weltgesundheitsorganisation wurden wochenlang angelogen.

Der Kampf gegen SARS wird jetzt von der Vizeministerpräsidentin Wu Yi angeführt. Die 63-Jährige gilt als durchsetzungsfähige Politikerin. Die jetzt angelaufene landesweite Kampagne gegen SARS, bei der im Notfall ganze Dörfer und Schulen unter Quarantäne gestellt werden, trägt ihre Handschrift. Erstmals werden auch realistische Ansteckungszahlen genannt. Optimisten hoffen darauf, dass die SARS-Krise einen ähnlichen Effekt auf das politische System haben könnte wie einst Tschernobyl auf die Sowjetunion. Die träge Reaktion der sowjetischen Behörden überzeugte Gorbatschow damals davon, dass das sozialistische System nicht mehr funktionierte. Im Zhongnanhai, dem Machtzentrum Chinas, gibt es bisher keine solchen Hinweise. Hu Jintao hält sich im Hintergrund. Um nicht persönlich die Verantwortung für ein mögliches größeres Desaster übernehmen zu müssen, delegierte er den Kampf gegen das Virus an seine Untergebenen. Offenbar rechnet man in der Führung mit Schlimmerem. „Ich glaube, wir steuern auf einen sehr großen Ausbruch zu“, erklärte der WHO-Repräsentant in Peking, Henk Bekedam. Eine flächendeckende SARS-Epidemie würde nicht nur tausende von Menschenleben bedrohen, die Behandlung der Erkrankten und der Arbeitsausfall würde Milliardensummen kosten. Der chinesische Wirtschaftsaufschwung, die wichtigste Legitimierung der Kommunistischen Partei, wäre in Gefahr. Premier Wen Jiabao warnte die Genossen in einer Rede: „Sollten sie SARS nicht in den Griff bekommen, könnten die Folgen zu schrecklich sein, um sie ins Auge zu fassen.“

Aktualisiert: 25.04.2003, 05:06 Uhr

Alle Artikel, Grafiken und Inhalte, die auf Yuanming.de veröffentlicht werden, sind urheberrechtlich geschützt. Deren nicht-kommerzielle Verwendung ist erlaubt, wenn auf den Titel sowie den Link zum Originalartikel verwiesen wird.

Das Neueste

Archiv