SPIEGEL ONLINE: Rau, China und der aufrechte Gang

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Nanjing – Es ist eine anrührende Szene, die sich da weit vor den Toren Nanjings am Abend abspielt – auf einem kleinen Rasenstück des Firmengeländes von Siemens. Mu Xifu, 80, und seine Cousine Li Shizhen,76, sitzen ziemlich verloren auf zwei Stühlen. Ihre einfache Kleidung und ihre verwitterten Gesichter zeigen, dass sie es schwer gehabt haben in diesem Leben: Als Gemüseverkäufer schlugen sie sich durch.

Dass sie noch am Leben sind, haben sie einem Deutschen zu verdanken: Der Siemens-Repräsentant John Rabe hat sie und mehr als 600 andere Chinesen 1937 in seinem Haus und in seinem Garten beherbergt, ihnen Kleidung und Nahrung gegeben und sie so vor der japanischen Besatzungsmacht gerettet. „Ohne ihn“, sagt Mu, „wären wir heute tot“ und Cousine Li nickt.

Der 1950 gestorbene John Rabe, ein NSDAP-Mitglied, hat mit Zivilcourage Tausende von Chinesen vor einem schrecklichen Tod bewahrt, indem er in Nanjing eine „Sicherheitszone“ schuf. Heute steht seine Büste auf dem Siemensgelände, und ein anderer Deutscher ehrte ihn am Freitag: Bundespräsident Johannes Rau legte während seiner achttägigen Staatsvisite in China ein Gebinde aus gelben und roten Rosen nieder.
Keine Kompromisse

Ganz überwältigt sind die beiden gebeugten Chinesen von dem Wirbel, die Funktionäre, deutsche Beamte und Journalisten entfachen. Rau steuert auf sie zu, fragt nach ihrem Alter, wünscht alles Gute. Nach wenigen Minuten stehen sie wieder verlassen da, als die schier endlose Kolonne aus schwarzen Limousinen in der Nacht verschwindet.
Es war ein Termin ganz nach dem Geschmack von Rau: Zivilcourage, Menschlichkeit, der aufrechte Gang sind eine Botschaft, die er den Chinesen nahe bringen will. Bei einer Rede in der Nanjinger Universität, die ihm den Titel eines Ehrendoktors verleiht, wird er am Sonnabend so deutlich wie noch nie ein deutscher Politiker seines Kalibers vor ihm: Manch anderer fürchtet, allzu offene Worte würden lukrative Wirtschaftsverträge gefährden.

Doch Rau mahnt bei seinen Gastgebern in klaren Worten, die er sich monatelang, wie er sagt, genau überlegt hat, die Menschenrechte an. Ein Riesenland wie China, sagt er, könne nicht „dauerhaft mit einer autoritären Politik gut regiert“ werden. Menschenrechte, sagt Rau, hätten „universelle Bedeutung“ und „müssen weltweit gelten“: „Wenn es um die fundamentalen Rechte der Person geht, um Leben und Freiheit, um Schutz vor Folter, vor willkürlichem Freiheitsentzug und vor Diskriminierung …, dann kann es in der Grundhaltung keine Kompromisse und kein Relativieren geben“.

Die Professoren und Studenten hören die Worte nahezu regungslos, keine Hand rührt sich an den heiklen Stellen zum Applaus. In der Diskussionsrunde trägt ein Student schließlich die Begründung der KP vor, warum die ihren 1,28 Milliarden Untertanen etwa keine Meinungs- und Pressefreiheit zubilligt. Habe das Recht auf Wohnung und Nahrung nicht Vorrang, seien diese fundamentalen Dinge in einem Entwicklungsland wie China nicht zunächst wichtiger als Demokratie?

Angriff auf das Propagandagebäude
Nein, wehrt Rau ab, „Rechte“ könnten und dürften „nicht gegeneinander ausgetauscht werden“: „Das kann ich nicht anerkennen.“ Viele im Publikum scheinen verblüfft über den Deutschen in dem rot-schwarzen Talar, der in seiner typisch jovialen Art das Propagandagebäude der Partei einreißt.
Es ist ein brillanter Auftritt Raus, denn es gelingt ihm, nicht mit erhobenem Zeigefinger zu sprechen. Er lobt und ermutigt die Chinesen, erkennt ihre Schwierigkeiten an, zitiert Konfuzius und beschwört sie, „Kritik am Stand der Menschenrechte“ bedeute nicht, dass man im Streit liege. Gleichzeitig mahnt er: „Die Pflege fester wirtschaftlicher Beziehungen und das Eintreten für Menschenrechte schließen sich nicht gegenseitig aus.“

Dies ist wohl auch an den Genossen Kanzler und an den Außenminister gerichtet. Gerhard Schröder und Joschka Fischer haben bei ihren letzten Besuchen in China das heikle Thema, wenn überhaupt, nur leicht berührt, weil ihnen die deutschen Wirtschaftsvertreter im Nacken sitzen.
Später sagt Rau:“ Ich kann gut verstehen, wenn der Bundeskanzler etwas andere Akzente setzt als ich“, aber er sei sicher, dass Schröder und die „politische Elite Deutschlands“ so denke wie er.

Die Bundesregierung verweist immer wieder auf den Rechtsstaatsdialog, der seit 1999 Juristen aus beiden Staaten zusammenbringt. Auch Rau plädiert dafür, das Programm fortzusetzen und die Debatte, die sich bisher vor allem um wirtschaftliche Fragen dreht, um das Thema der Menschenrechte zu erweitern.

Herz in der Hose
Dabei scheut er sich nicht, bei seinem Amtskollegen Hu Jintao unter vier Augen auch Schicksale von Dissidenten anzusprechen und ihm ins Stammbuch zu schreiben, die ewige Kritik Pekings an Regierungen, die den Dalai Lama empfangen, sei nicht mehr zeitgemäß.

Einigen deutschen Diplomaten ist danach wohl das Herz in die Hose gerutscht, doch die Chinesen werden es dem Berliner Staatsoberhaupt verzeihen. Denn der setzt sich auch energisch für den Wissenschaftler- und Studentenaustausch aus, an dem Peking viel liegt. Alles laufe prima, beurteilt ein hoher chinesischer Diplomat in Nanjing den Besuch.

Rau revanchiert sich mit reichlich Lob für die neue Führungsgeneration: Staats- und Parteichef Hu sei „hellwach und präzise“, Premierminister Wen Jiabao wirke „geradezu bedrückend jung“, sei „sehr frisch, sehr direkt, sehr problembewusst“.

Offen legt Wen in Peking dem Deutschen die Probleme der Wirtschaftsmacht Chinas dar, etwa die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich sowie dem Osten und dem Westen des Landes. Das sei, bilanziert Rau, „in jeder Minute anregend“ gewesen.

Nur eines vermisst er: „Die haben nicht mal gefragt, was ich nach meiner Zeit als Bundespräsident mache.“

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© SPIEGEL ONLINE 2003

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