Eine Analyse des „Büro 610“: Pekings dunkles Geheimnis

Die chinesischen Funktionäre leugnen seine Existenz. Westliche Medien und Wissenschaftler erwähnen es kaum im Vorbeigehen. Und chinesische Juristen vergleichen es mit der Gestapo.

Es wird „Büro 610“ genannt und ist ein illegales polizeiliches Einsatzkommando zur Ausübung der Mission der Auslöschung von Falun Gong.

Es gibt keine Gesetzgebung zur Einrichtung des „Büro 610“, das nach dem Tag seiner Bildung, dem 10. Juni 1999, benannt ist. Auch gibt es keine Gesetze, die seine Machtbefugnis abgrenzen. Stattdessen wurde es von dem ehemaligen kommunistischen Parteiführer Jiang Zemin ins Leben gerufen und in seiner Rede vor Elitekadern bekannt gegeben und zwar einen Monat, bevor Falun Gong offiziell verboten wurde. Jiangs Anweisungen für das neue Büro: „Sofort eine Truppe organisieren“, „Kampfstrategien bilden“ und „sich vollkommen vorbereiten für die Arbeit der Zerschlagung [von Falun Gong]“.

Abschriften von Jiangs Rede über das „Büro 610“ kamen sofort auf jede Ebene der Bürokratie Chinas in Umlauf, um die Kader wissen zu lassen, dass sie eng mit dem „Büro 610“ und seinen angeschlossenen Unternehmen „kooperieren müssen“. Unterstützt von der Tatsache, dass alle chinesischen Richter Mitglieder der Kommunistischen Partei waren, stellte Jiang im Wesentlichen dieses Organ über das Gesetz und verletzte damit Artikel 5 der Verfassung Chinas.

Während sich die Verfolgung intensivierte, nahm auch die Entschlossenheit der Anhänger von Falun Gong zu, das Praktizieren fortzusetzen und eine Wiedergutmachung zu fordern. Die Antwort des Regimes war, dass es dem „Büro 610“ zunehmend breitgefächerte Macht gewährte. Jiang gab Anweisung, „alle notwendigen Maßnahmen“ anzuwenden, eine Vollmacht, die dazu führte, dass das „Büro 610“ bald äußerst berüchtigt war – für die Anwendung extremer Folter.

Neben Schlägen ins Gesicht und Prügel am Körper mit harten Gegenständen sind einige der am häufigsten angewendeten bzw. befohlenen Foltertechniken der Angestellten des „Büro 610“ tage- und wochenlanger Schlafentzug, Schocken von sensiblen Körperteilen mit bis zu sechs Starkstrom-Viehdrähten, dem Aufhebeln von Fingernägeln und der Zwangsernährung mit menschlichen Fäkalien.

„Die unmoralische Handlungsweise, die meine Seele am meisten erschütterte, ist die regelmäßige Körperverletzung der weiblichen Genitalen durch das 'Büro 610' und Polizisten“, schrieb der Pekinger Menschenrechtsanwalt Gao Zhisheng nach seinen Ermittlungen von Misshandlungen von Falun Gong im Nordosten Chinas im Jahr 2005. „Von den Verfolgten wurden fast bei jeder Frau die Genitalien und Brüste und bei jedem Mann die Geschlechtsteile auf äußerst vulgäre Art sexuell misshandelt. Fast alle Verfolgten, ob Frau oder Mann, wurden vor der Folterung nackt ausgezogen.“

Ziel dieser Methoden ist das Erzwingen von Geständnissen und die „Umerziehung“, gekennzeichnet durch Brandmarkung von Falun Gong. Für Tausende endete dies mit dem Tod. Neben der Folter verurteilen die Ermittler des „Büro 610'“ die Falun Gong-Anhänger direkt zu Arbeitslager, Untersuchungsgefängnis und Gehirnwäscheeinrichtungen, wo sie drei Jahre lang ohne einen einzigen Gerichtstermin weggesperrt werden können.

Der Puppenspieler

Bei einer derart allumfassenden Befehlsgewalt würde man erwarten, dass das „Büro 610“ enorm viel Personal hat. Die verfügbaren Anzeichen weisen jedoch darauf hin, dass seine Personalstruktur überraschend begrenzt ist. Laut offizieller Webseite der Kommune Penglai, einer Stadt mit 490.000 Einwohnern in der Provinz Shandong, besteht das „Büro 610“ nur aus sieben Personen.

Die wirkliche Macht des „Büro 610“ liegt in seinem Vermögen, seine Handhabe anderen Partei- und Regierungskörpern aufzuzwingen. Die Zentrale des „Büro 610“ von Tianjin hat laut Hao Fengjun, einem ehemaligen Funktionär des „Büro 610“ der Stadt, beispielsweise 50 bis 60 Angestellte, die direkt der 30.000 Mann starken Polizeitruppe der Stadt befehlen können, wobei ein Beamter von „610“ oft mehr als 100 gewöhnliche Polizisten befehligt.

So war es das zentrale „Büro 610“, das die Verhaftung von mehr als 5000 Falun Gong-Praktizierenden in Changchun im März 2002 anordnete. „Jeden Tag 'befragte' die Polizei alle Praktizierenden auf der schwarzen Liste des 'Büro 610', sagte Wang Yuhuan, der damals verhaftet wurde und später mit Gao sprach.

Als Gao und ein anderer Anwalt versuchten, ihren Klienten, einen Falun Gong-Praktizierenden in einem Arbeitslager, zu besuchen, war es ähnlich. Gao erinnert sich, dass ihm gesagt wurde, dass die Geschäftsführer die Gesuche zum Besuch irgendeines Häftlings bewilligen konnten. Um einen Falun Gong-Praktizierenden sehen zu können, erklärten die Lagerbeamten, „benötigen wir eine Spezialerlaubnis vom `Büro 610´".

Guo Guoting, ein anderer chinesischer Rechtsanwalt, berichtet von einer ähnlichen Erfahrung, als er um Erlaubnis ersuchte, einen Falun Gong-Praktizierenden im Gefängnis von Shanghai zu besuchen. Wenn es zu Falun Gong-Gefangenen kommt, hat das „Büro 610“ das Sagen, erklärte er in einem Interview in Vancouver, Kanada, wo er jetzt im Exil lebt. „Die Gefängnisse selbst haben keine Macht.“

Die Reichweite geht bis zu den Gerichten. Guo sagt: „Ich weiß, dass die Falun Gong-Fälle nicht vom Richter entschieden werden, sondern nach den Anordnungen des 'Büro 610' erfolgen. Die sind dafür zuständig.“

Wie ist das Vorgehen des „Büro 610“? Wie hat es solch eine Macht angesammelt? Die Antwort liegt in seiner Struktur und in der Art, wie es an der existierenden Maschinerie der Kommunistischen Partei Chinas angeschlossen ist.

Nachdem ein Führungsteam und „Büro 610“ unter dem Zentralkomitee der KPCh gegründet worden waren, wurden entsprechende Körper auf jeder Verwaltungsebene sowie in jeder größeren gesellschaftlichen Organisation, Firma, Arbeitseinheit und Universität gebildet. Jede Zweigstelle ist eng mit den örtlichen Parteikomitees, politisch-rechtlichen Komitees oder den Büros für öffentliche Sicherheit verbunden.

Das oben erwähnte „Büro 610“ in Penglai ist beispielsweise unter dem politisch-rechtlichen Komitee aufgelistet, einem Bestandteil des nationalen Netzwerks von KPCh-Organen, das Verhaftungen, Verhöre und Verfolgungen beaufsichtigt. Solche Verbindungen befähigen das „Büro 610“, das Strafjustizsystem zu manipulieren.

Die Webseite des Büros für Öffentliche Sicherheit der Qingdao Meeresuniversität von China berichtet, dass diese Einrichtung ein Büro eröffnete, das den Zweck hat, „das Falun Gong Problem abzuschaffen, nämlich das `Büro 610´ innerhalb der Öffentlichen Sicherheit der Schule“. Der Frauenverband in Jinan verkündet stolz auf seiner Webseite, dass in einem Newsletter des „Büro 610“ eine von ihm durchgeführte Studie veröffentlicht wurde, nachdem örtliche Bewohner, die Falun Gong praktizieren, überwacht worden waren.

Doch durch die noch überall vorhandene Parteistruktur kann das „Büro 610“ in die elementarsten Einheiten der chinesischen Gesellschaft eindringen. Ein internes Memo vom 21. April 2001 war adressiert an alle „Arbeitskomitees, Dorf- und Großgemeindekomitees und alle Büros der Nachbarschaftskomitees“ im Mentougou Bezirk von West-Peking. Es meldet Anordnungen weiter zur Verstärkung der lokalen Überwachung von Falun Gong und um in „jeder Arbeitseinheit die Inspektion und Kontrolle“ einzugliedern in „die derzeitige Umerziehung durch Arbeit“.

Diese Rundmeldung instruiert außerdem die Komitees der Großgemeinden und Nachbarschaften, „eng mit den Organen der Öffentlichen Sicherheit zu kooperieren“, da diese die Falun Gong-Praktizierenden von Haus zu Haus suchen.

Weder die enge Überwachung noch der Glaube der Partei an ihre Befehlsgewalt scheint mit der Zeit nachgelassen zu haben. Ein anderes Memo vom April 2006 gibt die gleichen Anweisungen, fast wörtlich, an die Parteikomitees auf den Ebenen der Großgemeinden und der Kreise weiter.

Quoten und Geld

Während einige örtliche Beamte enthusiastisch solchen Anordnungen Folge leisten, zögern andere beim Vorgehen gegen ihre Nachbarn. Gleich nachdem Falun Gong verboten wurde, gab es tatsächlich Berichte über die Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit oder sogar stillschweigende Opposition zu dieser Kampagne. Unter solchen Umständen entwickelte das „Büro 610“ verschiedene Motivationsmechanismen, um Druck auf die niedrigeren Beamten auszuüben und gewöhnliche Bürger zur Kooperation zu bringen.

Im Jahr 2000 beschrieb Ian Johnson vom Wall Street Journal, der einen Pulitzer Preis für seine Berichterstattung über Falun Gong erhielt, ein „Verantwortlichkeitssystem“, das das „Büro 610“ eingerichtet hatte. Bei dieser Regelung wurden örtliche Beamte mit potentiell verheerenden Geldstrafen für jeden Praktizierenden innerhalb ihres Rechtsbereichs belegt, der Peking erreichte, um dort eine Petition bei der Zentralregierung einzureichen.

Eine solche Bewertung wurde mit der Zeit immer offizieller gemacht. Eine Tabelle aus Guangzhou aus dem Jahr 2002 zeigt ein komplexes System von Plus- und Minuspunkten auf der Basis der Kollaboration mit dem „Büro 610“. Die Tabelle muss von jeder Großgemeinde und jeder Nachbarschaft im Bezirk Tianhe als Teil seiner Bewertung am Jahresende vervollständigt werden. Unter den aufgelisteten Punkten gibt es: „Ziehen Sie 8 Punkte ab für jeden Praktizierenden, der nicht umerzogen wurde“ und „ziehen Sie 5 Punkte ab für jedes Mal, wo sich eine Gruppe von mehr als drei Personen in der Öffentlichkeit versammelte, um die Übungen gemeinsam zu machen“.

Eine weitere gängige Taktik des "Büro 610" ist das Verhängen von Quoten auf jede niedrigere Ebene. Eine typische Quote besteht zum Beispiel aus der Anzahl von Praktizierenden, die in einem bestimmten Zeitraum verhaftet werden müssen.

Polizisten, die diese Jahresquote nicht erfüllen, müssen mit einer Degradierung oder dem Verlust ihres Arbeitsplatzes rechnen. Der ehemalige Beamte des "Büro 610", Hao Fengjun aus Tianjin, sagte, dass er einen Sinneswandel erfahren habe, als er Zeuge wurde, wie eine Frau namens Sun Ti, die Falun Gong praktiziert, als Teil des „Umerziehungsprozesses“ gefoltert wurde. Mit zunehmender Desillusionierung in Bezug auf seine Arbeit beim „Büro 610“ nahm auch der Schärfegrad der Maßnahmen zu, die eingesetzt wurden, um ihn bei der Stange zu halten.

Hao berichtet von einer Episode im Februar 2004, als er 30 Tage lang in eine Einzelzelle gesteckt wurde, die speziell für Polizisten eingerichtet war, nachdem er die Propaganda des Staates gegen Falun Gong als „Lüge“ bezeichnet hatte. Der ehemalige Polizist erzählt, dass er während dieser Haft seine Familie nicht anrufen durfte. Die kühle Temperatur in der Zelle ließ seine Hände „anschwellen wie Dampfbrötchen“ und aus seinen Ohren trat Eiter. Nach seiner Freilassung wurde er in den Postraum versetzt, bis er im Jahr 2005 mit einem Bündel von geschmuggelten 610-Dokumenten nach Australien floh.

"Obwohl einerseits viele seiner Kollegen ihre Arbeit ablehnen, gibt es viele andere, die rasch in das Belohnungssystem des `Büro 610´ eingestiegen sind. Es gab Menschen, die sehr hart arbeiteten, weil sie für mehr Verhaftungen von Falun Gong-Praktizierenden auch mehr Bonuspunkte bekamen“, erzählt Hao.

Noch lukrativer als die Verhaftung von Praktizierenden in China ist das Sammeln von Geheimdienstinformationen über Anhänger im Ausland. Wenn Grundinformationen über das persönliche Leben von Praktizierenden als wertvoll eingeschätzt werden, dann bekommt man üblicherweise 50.000 Yuan (über 6.000 Dollar). Durch ein Informandensystem mit Personen, die sonst ein ganz gewöhnliches Leben im Ausland führen, baut das „Büro 610“ ganze Profile von ausländischen Gemeinschaften auf. Hao sagt, dass er „persönlich Geheimdienstinformationen über Falun Gong-Praktizierende in Australien, den Vereinigten Staaten und Kanada“ erhalten habe, die so detailliert waren, dass sie aufzeigten, wo diese Personen arbeiteten und welchen Aktivitäten sie nachgingen.

Funktioniert es?

Seitdem die Proteste von Falun Gong auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Jahr 2002 abgenommen haben, überwiegt unter vielen westlichen Journalisten und Wissenschaftlern die Stimmung, dass die Kommunistische Partei Erfolg hatte bei der Vernichtung dieser Gruppe.

Doch Parteidokumente und Insider erzählen eine andere Geschichte. Im Jahr 2006 waren die „Büros 610“ immer noch besorgt, dass Transparente zu Falun Gong zu sichtbar waren. Im Jahr 2005 konfiszierten chinesische Behörden 4.62 Millionen Stück Materialien über Falun Gong. Die Partei zählt Falun Gong immer noch zu den „fünf Giften“, die sie am meisten fürchtet (Demokratiebefürworter, Unterstützer der taiwanischen Unabhängigkeit, Tibeter und Aktivisten für Ostturkestan sind die anderen).

„Uns war allen klar, dass es bei unserer internen Kommunikation darum ging, wie die Verfolgung scheitert“, erzählt Hao.

Dieser Artikel auf Englisch:
http://www.clearwisdom.net/html/articles/2010/6/10/117762.html

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